«Was würdest du tun, wenn du ein Luchs wärst, der sich fühlt wie ein Tiger?»

«Ich würde mich verhalten, als wäre ich einer.»

«Wie soll das gehen? Wenn du es doch nicht bist?»

«Vielleicht bist du es ja und weisst es nur nicht. Vielleicht bist du ein Tiger, dem so lange eingeredet wurde, er wäre ein Luchs, dass er es glaubte und sich versteckt hat.»

«Hm… Ich weiss nicht…»

«Weiss ein Adler, der im Hühnerstall aufgewachsen ist, dass er kein Huhn ist?»

«Der Vergleich hinkt. Der Adler kann fliegen, das Huhn nicht.»

«Wenn nun aber der Adler denkt, er könne nicht fliegen und es deswegen nie versucht, wird er das nicht herausfinden und sich weiterhin für ein Huhn halten.»

«Glaubst du das wirklich?»

«Ja, das tue ich.»

«Was wäre denn, wenn du nun als Luchs einen Tiger sähest. Wenn du denken würdest, dass du lieber so wärst wie er. Dass sein Verhalten dir mehr entspricht. Was wäre dann?»

«Nun, dann müsste ich das herausfinden, indem ich es ausprobiere.»

«Aber wie würdest du das anstellen? Was, wenn du nicht so sein kannst wie er, weil es dein Körper nicht erlaubt?»

«Woher weisst du das?»

«Nun ja, so als Luchs hat man eben andere Eigenschaften als ein Tiger.»

«Vielleicht fühlt sich aber der Tiger wie ein Luchs und hätte lieber dessen Eigenschaften als seine eigenen.»

«Das glaube ich nicht.»

«Warum nicht?»

«So ein Tiger ist doch viel mehr als ein Luchs. Er ist stärker und selbstbewusster und majestätisch. Er wird gesehen und stört sich nicht daran, er flösst den anderen Respekt ein und nimmt sich, was er will.»

«Das mag er wohl alles tun. Ein Luchs jedoch, ist flinker und agiler. Er ist ein Meister der Tarnung und hat das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Er mag sich weniger zeigen, doch wenn er es tut, erstarren alle vor seiner Schönheit.»

«Das tun sie beim Tiger ebenso.»

«Ja, aber das negiert die Schönheit des Luchses nicht. Man kann sie ja beide schön finden, ohne zu werten.»

«Nun, was wäre, wenn einer von ihnen sich selbst nicht schön fände?»

«Was wäre denn, wenn sie das beide nicht täten? Vielleicht ist es so, dass jeder den jeweils anderen bewundert.»

«Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Der Tiger weiss doch bestimmt sehr genau, wer er ist.»

«Und der Luchs vermag das gewiss zu beurteilen. Schliesslich hat er stets den Überblick.»

«Das bezweifle ich.»

«Zweifel erweisen sich oft als unnötig und sind unter Umständen gefährlich.»

«Wenn ich nun sage, dass mir dieses Wissen nicht hilft?»

«Dann antworte ich plump, dass sie beide toll sind und keiner sich schlecht fühlen muss.»

Schweigen.

Tiger: «Glaubst du das wirklich?»

Luchs: «Ja, das tue ich. Wobei, sicher bin ich nicht. Wer ist das schon?»

«Ich denke, Tiger sind es.»

«Ich denke, eher nicht. Luchse müssen es sein, um nicht zu fallen, denn das bräche ihnen vielleicht das Genick.»

«Aber wie können sie das, wenn sie es nicht sind?»

«Sie überwinden ihre Unsicherheit und versuchen es, bis sie es werden.»

«Du denkst also, ich kann das sein, was ich möchte?»

«Ja, selbstverständlich. Aber einfach ist es halt nicht.»