Judith besuchte den Buchladen zum ersten Mal. Ein kleines Inserat hatte ihr Interesse geweckt: Laden für gebrauchte und einzigartige Bücher. Sonntags geschlossen.

*

Das Glöckchen schepperte, als sie durch die Tür trat und diese sorgsam hinter sich schloss. Lärm, Tageslicht und Hitze blieben draussen zurück. Es kam ihr vor, als beträte sie eine andere Welt. Kühle Luft schlug ihr entgegen und es roch nach Leder, Staub und altem Holz. Ihr Blick fiel auf das Schaufenster neben der Tür, das gänzlich mit Büchern zugestellt war und kaum Licht hereinliess. Eine Motte krabbelte am Fensterrahmen hoch. Judith rümpfte die Nase. Sie hasste Motten.

Im Dämmerlicht erkannte sie grob gezimmerte Bücherborde, die bis zur Decke reichten und deren Bretter sich unter der Last unzähliger Bände durchbogen. Lächelnd betrachtete sie die Gestelle. Es mussten hunderte, wenn nicht tausende Bücher sein. Die innere Sammlerin jauchzte. Sie freute sich auf eine halbe Stunde Schmökern, bevor sie ihre Tochter aus der Kita abholen musste.

Ein schabendes Geräusch liess sie herumfahren. Sie sah einen dürren, alten Mann zwischen den Regalen hervortreten und ihr entgegenschlurfen. Er ging vornübergebeugt und hatte den Kopf und den faltigen Hals schräg vorgereckt. Das Gesicht des Alten dominierte eine Brille, die unglaublich stark sein musste, denn Judith konnte die Augen kaum erkennen. Ihr schlug der eigentümliche Geruch alter Menschen entgegen. Und noch von etwas anderem, das sie nicht einordnen konnte. Er nickte ihr zu und musterte sie von oben bis unten.

»Guten Tag, junge Dame. Sie haben schöne Augen.« Seine Stimme klang dünn und belegt und weckte in Judith den Drang, sich zu räuspern. »Kann ich Ihnen helfen?«

Sie hatte nicht damit gerechnet, mit einem Kompliment begrüsst zu werden, und geriet für einen Moment aus dem Konzept. »Ich … ich würde mich gerne einfach umsehen. Oder können Sie mir etwas empfehlen?«

Sein Blick bohrte sich in ihren. Dann grinste er und entblösste eine Reihe verfärbter, schiefstehender Zähne.

»Jedes Buch ist einzigartig, hat eine eigene Seele.« Er kicherte. Mit der knochigen Hand machte er eine Bewegung, die den ganzen Laden einschloss. »Am besten schauen Sie sich einfach um. Sie finden bestimmt etwas.«

Die Gegenwart des Alten bereitete ihr Unbehagen. Sie nickte ihm zu und rettete sich zwischen die Regale. Sie eilte die Gänge entlang und bog beliebig nach links und rechts ab. Ein paar Mal spähte sie über die Schulter zurück, doch der Buchhändler schien ihr nicht zu folgen. Schliesslich zwang sie sich stehen zu bleiben und atmete einmal tief durch.

Sie liess den Blick über die Gestelle schweifen. Die ledergebundenen Wälzer waren unordentlich aufgereiht, manche lagen quer aufeinander und alle trugen eine dicke Staubschicht. Judith versuchte, die Titel auf den Einbänden zu lesen, aber im vorherrschenden Zwielicht hatte sie Mühe, die Buchstaben zu erkennen. Sie ging näher heran, kniff die Augen zusammen und entzifferte den Namen des Autors. Sie kannte ihn nicht, genau so wenig wie den Titel. Sie streckte die Finger aus, berührte den Buchrücken – und zuckte zurück. Er fühlte sich … warm, und auf eine seltsame Art lebendig an. Überrascht sog sie die Luft ein und trat hastig einen Schritt zurück. Die Fingerspitzen prickelten. Sie widerstand dem Drang, die Hand an der Hose abzuwischen. Die Härchen auf den Armen stellten sich auf. Erst jetzt bemerkte sie, wie kühl es im Laden geworden war.

Im Laden?

Sie hatte eher das Gefühl, in einem riesigen, düsteren Labyrinth aus Büchern zu stehen. Kalter Schweiss trat ihr auf die Stirn und sie spürte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel.

Nur keine Panik. Einfach keine Panik kriegen. Atme, wie du es in der Therapie gelernt hast.

Raus. Sie wollte nur noch an die frische Luft, ans Licht. Sie drehte sich um, eilte zwischen den Regalen hindurch und versuchte sich zu erinnern, wo sie abgebogen war. Schliesslich wurde es heller und ihr Herz machte einen Sprung.

Der Ausgang.

Sie bog um die Ecke – und erstarrte.

Vor ihr lag nicht der Ausgang, sondern sie stand in einem kleinen Raum. Überall stapelten sich unzählige Bücher zu hohen Türmen und der Geruch von altem, feuchten Leder und Moder liess sie würgen. Ein Surren, begleitet von einem unregelmässigen Ticken, zwang ihren Blick nach oben. Sie erkannte eine Motte, die um ein fahles Licht schwirrte und immer wieder gegen das Glas stiess. Judith blinzelte verwirrt. Sie blickte zurück, doch zu ihrem Entsetzen war der Gang verschwunden.

Dann bemerkte sie den mannsgrossen Spiegel.

Er zeigte den Raum, aber etwas war anders. Von den Wälzern, die sich überall auf dem Boden und an den Wänden stapelten, ging ein schwaches Leuchten aus. Aber da war noch etwas. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff.

Sie hatte kein Spiegelbild.

»Gefallen sie Ihnen?« Der Geruch des Alten stach ihr in die Nase.

Sie zuckte zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie im Spiegel, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste. Hastig warf sie einen Blick über ihre Schulter, doch da war niemand. Ungläubig sah sie zu, wie das Ding mit dürren Gliedmassen ungelenk auf sie zukam. Der vorgereckte Kopf pendelte bei jedem Schritt hin und her und die knochigen Finger griffen wie einem lautlosen Rhythmus folgend in die Luft. Judith starrte in das verzerrte Gesicht und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Anstelle von Augen sah sie nur zwei pechschwarze unförmige Flecken.

Das kann nicht sein. Ich bin in Panik. Das ist nicht real!

Alles in ihr schrie danach, sich herumzuwerfen und davonzulaufen, aber sie konnte sich nicht rühren.

»Jedes Buch ist einzigartig. So wie die Seelen.« Das Ding war bereits so nah, dass Judith glaubte, es käme jeden Augenblick aus dem Spiegel. »Sie haben eine schöne Seele.«
Mit diesen Worten streckte das Ding die Klauen nach ihr aus und riss sie zu sich.

*

Nachdem der Alte aus dem Spiegel hervorgetreten war, klopfte er seine Hose ab und strich zärtlich über den Einband des neuen Buches. Eine Motte stieg tanzend zum Licht der Glühbirne empor.

Das Glöckchen über der Eingangstür schepperte.