Eliane hasste diesen Pass. Er war dunkel, bewaldet und bei Nässe rutschig. Da es vor ein paar Stunden noch geregnet hatte, traf heute alles zu und sie hoffte einfach nur, dass ihr nicht zu viele andere Autos entgegenkamen. In der Dunkelheit verengte sich die Strasse nämlich auf merkwürdige Art und Weise. Normalerweise fuhr sie eine andere Route, aber dort hatten sie aufgrund irgendeiner Rohrsanierung alles abgesperrt. Deshalb blieb ihr keine andere Wahl, als dieser verfluchte Hügel.

Es gab Gerüchte über eine tatsächliche Heimsuchung. Vor zwanzig Jahren war hier ein Haus abgebrannt, ein Restaurant mit Wohnräumen für die Besitzer in den oberen Stockwerken. Man hatte das Feuer im ganzen Dorf gesehen. Nicht einmal der Keller war von dem Flammen verschont wurden. Das Ereignis war durch die ganze Regionalpresse gegangen und jeder hatte geglaubt, noch etwas mehr, etwas Besonderes, darüber zu wissen. Es wären keine Personen zu Schaden gekommen, hatten sie gesadgt. Das Restaurant war geschlossen gewesen, die Besitzer auf einem Ausflug, keine weiteren Menschen in der Nähe.

In diesem Jahr passierten auf dem Pass mehr Unfälle als gewöhnlich. Autos waren aus ungeklärten Gründen von der Strasse abgekommen und in den Abgrund gestürzt, Augenzeugen hatten von entgegenkommenden Fahrzeugen berichtet, die aber nie unten im Dorf angekommen waren. Es war auch immer nur auf dieser Seite des Berges gewesen.

In der Dorfbeiz erzählte man sich, die Medien hätten gelogen. Ein Mensch hätte sich noch in dem Haus befunden, eine Kellnerin, die stets während der Woche beim Wirtsehepaar übernachtete. Man hatte ihre Leiche nie gefunden, aber man wusste, dass sie von diesem Tag an verschwunden war.

Eliane fuhr so schnell, wie sie es wagte. Es erwies sich als schwierig, da jeweils nach wenigen Metern die nächste enge Kurve folgte, aber sie hielt sich daran, was sie gelernt hatte: Weit vorausschauen, alle Sinne beisammen haben. Weiter oben schob sich ein Lichtstrahl zwischen den Bäumen hindurch. Eliane fuhr ganz an den Rand der Strasse, damit sie den anderen nicht touchierte. Prompt rauschte ein fetter Mercedes an ihr vorbei.

Mit zittternden Händen umklammerte Eliane das Steuerrad und starrte auf die Strasse vor sich. Sie musste sich beherrschen, nicht links und rechts in den Wald zu schielen, denn sie befürchtete, dass jeden Augenblick ein Tier daraus hervorspringen konnte. Oder ein Geist. Nein, das war absurd. Es gab keine Geister und die Geschichte der Kellnerin war bloss etwas, dass sich jemand mit einem übersteigerten Aufmerksamkeitsbedürfnis ausgedacht hatte, um seine «five minutes of fame» zu bekommen.

Sie schob sich weiter voran und nun schielte sie doch kurz zur Seite. Links, schräg hinter ihr, bot sich ein atemberaubender Anblick des Lichtermeers im Tal, aber davon durfte sie sich nicht ablenken lassen. Sie musste diesen verdammten Hügel hinter sich bringen, und zwar möglichst rasch, sonst würde sie durchdrehen, das stand fest. Wie tiefer sie in den Wald kam, umso mehr verdichtete sich der Nebel. Immer wieder glaubte sie, etwas auf der einen oder anderen Seite vorbeihuschen zu sehen, aber sie verwarf diesen Gedanken.

Wahrscheinlich spielte ihr Gehirn ihr bloss einen Streich, zusammen mit dem Nebel, der sich heute irgendwie gegen sie verschworen hatte. Auf einer geraden Überlandstrasse wäre es keine Sache gewesen, sie sah immer noch einige hundert Meter weit. Aber wie die grauweissen Schwaden sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten, verlieh der Situation eine gewisse Bedrohlichkeit.

Eliane begann zu schwitzen, als sie um eine schwache Kurve bog, die ihr besonders vertraut vorkam. Fast hatte sie es geschafft. Nur noch einen knappen Kilometer und dann würde sie oben sein. Auf der anderen Seite gab es weniger Biegungen und keinen Wald. Sobald sie oben war, würde alles einfacher werden. Die unheimliche Seite war schon immer diese hier gewesen, selbst bevor das Wirtshaus abgebrannt war. Aber gleich war es vorbei. Gleich würde sie die Passhöhe erreichen und dann die andere Seite, die sogenannte «Sonnenseite».

Der Gedanke nahm Eliane die Angst ein wenig, als hinter ihr plötzlich eine Stimme erklang: «Komm nach Hause.»

Eliane erschrak so sehr, dass sie in einem Zug auf die Bremse trat und sich umdrehte. Auf der Rückbank sass eine Frau. Sie trug eine weisse Bluse unter einer schwarzen Weste und ihre Haarfarbe unterschied sich kaum von der Blässe ihres Gesichts. Ihre Haut war mit Brandwunden übersäht.

«Was zum …» Doch weiter kam Eliane nicht. Vor ihr sprang wie aus dem Nichts ein Reh auf die Strasse. Eliane riss das Steuer herum und trat noch heftiger auf die Bremse, doch sie kam erst zum stehen, als sie das Tier rammte. Das Tier fiel hin und blockierte das Auto.

Hastig drehte Eliane sich um, doch der Rücksitz war leer. Sie sah kurz nach inks und rechts, doch nichts ausser der Silhouetten der Sitze tauchte in ihrem Blickfeld. In einem letzten Anfall von Klarheit zog sie die Handbremse an, stieg aus und sah sich rasch um. Weit und breit war nichts ausser dem dunklen Wald und dem Reh. Das Tier kreischte ohrenbetäubend unter seinen Schmerzen. Eliane eilte zur Beifahrertür, um ihr Handy herauszuholen, doch die Tür war abgeschlossen. Aber sie hatte doch gar nicht …? Sie ging zurück zur Fahrerseite und versuchte es dort. Ebenfalls abgeschlossen.

Eliane wollte sich schon abwenden, als sie das hübsche Gesicht der Kellnerin wiedersah. Der Geist grinste sie verschwörerisch an, ehe das Auto zurücksetzte und dann in vollem Tempo auf sie zuraste. Eliane sprang zur Seite und landete im Wald. Das Auto wendete und kam erneut auf sie zu. Vor lauter Panik sah Eliane nicht merh auf den Weg, sondern stolperte in die erste Richtung, die ihr einfiel. Weg von dem Auto. Dabei rutschte sie ab, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings den Abgrund hinunter. Sie hatte das Gefühl, sämtliche Knochen in ihrem Körper brachen, als sie aufprallte und dann war alles vorbei.