«Beschreiben Sie mir bitte, was sie sehen.» Die Stimme von Dr. Krone war freundlich, als er mir den kleinen Handspiegel gab. Instinktiv wandte ich meinen Blick ab.

«Bitte, ich will nicht», presste ich erstickt hervor.

«Es ist nur ein Spiegel», meinte Dr. Krone und nahm sanft aber bestimmt meine Hand und drückte den Griff des Spiegels hinein.

«Es wird jedes Mal schlimmer. Bitte, zwingen sie mich nicht dazu!», wimmerte ich, den Kopf immer noch abgewandt.

«Was denken sie, wird der Höhepunkt sein?»

Entsetzt sah ich ihn an. Warum nötigte er mich, überhaupt daran zu denken?

«Sie wird aus dem Spiegel kommen», flüsterte ich. «Und sie wird mich umbringen.»

«Wie soll das ein Bild anstellen?»

«Keine Ahnung! Aber ich spüre es. Je mehr ich die Fremde im Spiegel anblicke, desto mehr Macht gebe ich ihr!»

«Frau Meier, Sie sehen keine Fremde im Spiegel, Sie sehen lediglich ein Bildnis von sich. Es gibt Menschen, die eine verzerrte Wahrnehmung ihrer selbst haben. Das geschieht öfters als Sie denken würden. Aber es wichtig, dass sie immer noch wissen, dass es trotzdem nur ein Spiegelbild ist.»

Ich sah meine Befürchtung bestätigt, dass der Besuch beim Psychiater ein Fehler gewesen war. Wie konnte er mir helfen, wenn er mir nicht mal glaubte? Ich war nicht das Problem. Seit einer Woche sah ich eine Fremde im Spiegel anstatt meinem eigenen Antlitz. Sie besass schwarze anstatt blonde Haare, goldene anstatt blaue Augen und hatte ganz andere Gesichtszüge. Und wenn ich sie schockerstarrt ansah, grinste sie mir mit blau verfärbten, spitzen Zähnen entgegen. Anfangs hatte sie meine Bewegungen imitiert, aber seit einigen Tagen bewegte sie sich unabhängig von mir. Gestern hatte sie begonnen, sich gegen das Glas zu pressen, als ob sie an einem Fenster stünde. Da brannte die letzte Sicherung in mir durch. Ich hatte den Notruf gewählt. Ein Nacht lang war im Spital gewesen. Am nächsten Morgen hatten sie mich mit Beruhigungsmittel und der Empfehlung, Dr. Krone aufzusuchen, entlassen.

Den Rest der Sitzung sagte ich nicht mehr viel und weigerte mich weiterhin, den Spiegel anzuschauen. Fluchtartig verliess ich schliesslich die Praxis. Diese war an einer geschäftigen Einkaufsmeile gelegen. Glasscheibe an Glasscheibe reihte sich hier. Doch anstatt die in die neuste Saisonmode gekleideten Mannequins sah ich nur die fremde Gestalt. Kalter Schweiss schoss mir aus den Poren. Das war neu. Bisher hatte sie sich nur in richtigen Spiegeln gezeigt. Ich wandte mich davon ab, doch selbst im vorbeifahrendem Busfenster grinste mich die Fremde an. Panisch rannte ich los. Passanten empörten sich, als ich sie anrempelte. Beinahe hätte ich einen Kinderwagen umgestürzt. Erst als ich einen Park erreichte, verlangsamte ich mein Tempo. Vogelgesang und das satte Grün der Büsche und Bäume hüllte mich ein. Tief ein und ausatmend versuchte ich meinen rasanten Herzschlag zu beruhigen. Als ich einen künstlichen See erreichte, blieb ich stehen. Es war windstill und er lag spiegelglatt da. Aus der Entfernung sah ich die Fremde nicht. Hier war ich sicher. Hinter mir wuchs die grüne Wand in die Höhe. Ich hätte wieder ins schützende Dickicht verschwinden können. Und dann? Früher oder später musste ich in die Stadt zurückkehren und dann würde sie mir aus jeder verfügbaren Spiegelfläche entgegengrinsen. Nein, Dr. Krone hatte Recht. Ich musste mich ihr stellen.

Plötzlich entschlossen stapfte ich auf den See zu. Dort kniete ich mich auf die Steine und stellte mich meinem Feind. Sie erwartete mich. Den Kopf leicht geneigt, ein hässliches Grinsen auf dem Gesicht, sodass die spitzen Zähne sichtbar wahren. Mit einem Schrei stürzte ich mich ins Wasser. Kälte umschlang mich, aber ich wurde nicht nass. Als meine Hände einen schlanken Hals umfassen, öffnete ich die Augen, die ich vorher zugekniffen hatte. Die Haut unter meinen Fingern war eisig, dennoch drückte ich zu. Die Fremde wehrte sich nicht. Trotzdem drückte ich weiter, spürte wie Wind- und Speiseröhre zerdrückt wurden, wie Knorpel knirschte und Knochen splitterte. Die grinsenden Lippen begannen zu hängen und das Feuer erlosch in den goldenen Augen. Angewidert stiess ich die Leiche von mir weg. Wieder wusch Kälte über mich hinweg und nun war ich wirklich nass. Mit triefendem Haar kniete ich im See, der von meinem plötzlichen Auftauchen noch in Aufruhr war, sodass ich kein Spiegelbild sah. Aber das war auch nicht nötig. Ich wusste was ich nun sehen würde. Zufrieden erhob ich mich und strich mein schwarzes Haar aus der Stirn. Als mein Magen knurrte, fuhr ich mit der Zunge über meine angespitzten Zähne. Die Äonen im Nimbus hatten mich hungrig gemacht.

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