Ich hatte immer gewusst, dass es eines Tages soweit kommen würde. Tief in mir drin hatte es immer einen Teil gegeben, der sich von Anfang an gesträubt hatte zu glauben, dass wir es tatsächlich schaffen konnten. Dass wir etwas verändern konnten. Dass wir eine Chance hatten.

Ich war nicht überrascht, nun hier zu sein, gefesselt an einen Stuhl in einem halbleeren Raum, dessen Wände so weiss waren, dass sie mich fast blendeten. Für mich war immer klar gewesen, dass ich einmal hier landen würde – nur möglicherweise unter andern Umständen. Nicht als Gefangene, als Rebellenanhängerin oder als gesuchte Staatsverräterin. Sondern als dreizehnjähriges, unwissendes Mädchen. Als eine der ersten aus ihrer Klasse, die die Behandlung empfangen würde. Genau so, wie es eigentlich vorgesehen gewesen war.

Ich fragte mich plötzlich, wie es soweit kommen konnte. Was war in meinem Kopf vorgegangen, als ich mich damals entschieden hatte, mit Marcel wegzulaufen? Wir waren nicht mehr als Kinder gewesen. Aber auf irgendeine Weise hatten wir schon damals gewusst, dass wir kein Leben führen wollte, über das wir nicht selbst bestimmen konnten.

Marcel.

Dachte er gerade auch an mich? Oder hatten sie ihn bereits zu einem antriebslosen und gefühlskalten Roboter gemacht wie den Rest der Welt?

Beim Gedanke daran wurde mir schlecht. Das war es, was ich so sehr an Marcel liebte: Seine Energie, sein Humor, seine halsbrecherischen Ideen. Sobald er die Behandlung bekommen hatte, würden sie ihm all diese Eigenschaften für immer wegnehmen. Er würde nicht mehr der Mensch sein, den ich so lange schon kannte. Er würde einer von ihnen werden: Eine Marionette des Senats, unfähig dazu, eigene Entscheidungen zu treffen.

Auf einmal überfiel mich Panik. Sie ergriff meinen ganzen Körper, liess mein Herz schneller schlagen und beschleunigte meinen Atem, bis er nur noch stossweise herauskam. Ich sträubte mich gegen meine Fesseln. Spürte, wie die Metallringe sich noch enger um mein Handgelenk schraubten, bis ich ein leises Knacken hören konnte.

Ich begann zu schreien. Nicht wegen des Schmerzes. Sondern weil ich in diesem Augenblick plötzlich die Ausweglosigkeit meiner Situation begriff. Sie traf mich wie ein Messer, das mir jemand von hinten in den Rücken rammte: Die Erkenntnis, dass das hier tatsächlich das Ende war. Dass es dieses Mal niemanden gab, der mich in letzter Sekunde hier rausholen würde.

Dass ich Marcel nie wiedersehen würde.

Wir hatten gekämpft. Viele Jahre lang. Wir hatten die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Doch schlussendlich hatten wir verloren. Wie es uns immer vorausgesagt worden war.

Ich bemerkte, wie es still geworden war. Von irgendwoher erklang ein leises Atmen. Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Es überraschte mich, dass ich überhaupt noch am Leben war.

Über mir begann sich etwas zu regen. Aus der Decke sank ein langes, greifarmförmiges Ding hinab. Die Maschine. Es war soweit.

Ich dachte darüber nach, die Lider zu schliessen, aber ich wusste, dass es keinen Wert hatte. Das Serum würde direkt über die Augen ins Hirn gespritzt werden und dort seine Wirkung entfalten. Ich würde nichts spüren. Ich würde nie wieder etwas spüren.

Der Greifarm stoppte kurz vor meinem Gesicht. Auf der rechten Seite der Hülle, die seine Elektronik umgab, konnte ich seine Aufschrift erkennen. DreamCatcher – Traumfänger. Beinahe hätte ich begonnen zu lachen. Eine ironische Bezeichnung für die Maschine, die der Ursprung all meiner Albträume war.

Ein Klicken ertönte. Der Greifarm fixierte mit zwei Metallklingen meine Lider, damit ich während der Behandlung nicht mehr blinzeln konnte. Ich holte tief Luft.

Das war es also.

Das war das Ende.

Irgendwo ging eine Tür auf. Schritte. Schreie. Eine Stimme, die meinen Namen rief.

Marcel.

Dann schoss die Nadel hinunter.