Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter der blauen Erdkugel, die von weissen Wolkenwirbeln und farbgesprenkelten Landflächen überzogen war. Nach und nach gingen die blinkenden Lichter in den Städten der Menschen an und leuchteten wie kleine auf den Globus geklebte Sterne. Die Absenz des Sonnenlichts weckt Yume, einen jungen Traumgeist. Während sich die anderen erst träge regten, zischte sie aufgeregt hin und her. Heute war es endlich so weit. Sie durfte das erste Mal auf die Erde hinabsteigen und jemanden besuchen. Wie aufregend! Doch noch musste sie sich in etwas Geduld üben. Niemand durfte gehen, bevor der grosse Weisling nicht das Signal gegeben hatte.

Yume  drängte alle zur Eile. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich ihr Anführer über die Köpfe der bunten Traumgeister und intonierte: «Es ist wieder so weit, meine Traumlinge. Gehet hinab auf die Erde und überbringt eure Träume. Doch gebt acht wohin ihr fliegt. Kommt ihr mit den falschen Energien in Kontakt, verdirbt der Traum in euch und ihr werdet zu Traumteufeln. Dann seid ihr dazu verflucht, auf der Erde zu wandeln und die Träume anderer zu stehlen.»

Yume kannte die Worte auswendig, denn der grosse Weisling sprach die Warnung jeden Tag aus. Dann endlich klatschte ihr Anführer in die Hände. Es konnte losgehen!

Kurz jagte Yume durch den leeren Raum, doch dann trat sie bereits in die Erdatmosphäre ein. Sie spürte ein warmes Kribbeln, als der Traum wie ein kleiner Samen in ihr anfing zu wachsen. Je näher sie dem Grund kam, desto ausgereifter würde er werden.

In der Exosphäre, dem Übergang zum Weltall gab es kaum Luft. Yume breitete ihre Geisterhände aus und versuchte die einzelnen Sauerstoffpartikel einzufangen, doch es waren zu wenige. Danach sauste sie durch die Thermospähre an glänzenden Satelliten vorbei. Polarlichter tanzten mit ihr Reigen und der kleine Traumgeist lachte entzückt auf. In der Mesosphäre erschrak sie ziemlich, als ein Meteorit direkt neben ihr verglühte. Konnte Ihr die Hitze auch nichts anhaben,  so erinnerte sie der rot leuchtende Gesteinsbrocken doch an die Warnung des Weislings: Sie musste auf der Hut sein.

In der Stratosphäre war es ruhiger. Die Erde nahm nun ihr ganzes Gesichtsfeld ein und die Beschaffenheit des zwischen den Wolken auftauchenden Bodens wurde immer detaillierter. Nur noch wenige Augenblicke und sie würde in die Troposphäre eintreten. Hier musste sie auf der Hut sein. Je tiefer sie kam, desto mehr Wolken quollen und strömten um sie herum. Die Wolken an sich waren nicht gefährlich. Doch sie konnten gefährliche Objekte in sich verbergen oder die Brutstätte von Gewittern sein.

Genau so ein Gewitter türmte sich neben Yume auf. Blitze zuckten darin und erhellten die dunklen Wolken. Der Traumgeist änderte seine Flugbahn ein wenig, sodass er dieser Teufelsküche nicht zu nah kam. Ein anderer war nicht so vorsichtig. Entsetzt sah Yume, wie er seine Flugbahn nicht mehr genug stabilisieren konnte. Er schoss direkt in die dunkle Wolke. Yume war so geschockt, dass sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Statt weiterzueilen, verharrte sie. Ein Blitz zuckte in der Wolke und ein hoher, heulender Schrei voller Agonie ertönte.

Danach brach etwas eisblau Leuchtendes aus den Wolken hervor. Wo vorher die Augen gewesen waren, lagen nun zwei schwarze Löcher. Dunkler Rauch waberte von seinem Körper auf. Er öffnete erneut den Mund und der schaurige Schrei ertönte wieder. Erst dieser Schrei lockte Yume wieder aus ihrer Starre. Sie drehte sich um und hastete weiter. Dabei brauchte sie den Kopf nicht zu wenden, um zu wissen, dass der Traumteufel die Verfolgung aufgenommen hatte.

Yume war flink, doch sie war sich nicht gewöhnt so viele Hindernisse in ihrem Weg zu haben. Sie erschrak zu Tode, als ein Flugzeug neben Ihr vorbeidonnerte. Kurz darauf konnte Sie nur knapp einen Zusammenstoss mit einem Schwarm Wildgänse vermeiden. Der Traumteufel kam dabei stetig näher, da er im Gegensatz zu Yume keinen Traum mehr in sich trug und so den Objekten nicht mehr ausweichen musste.

Endlich kam der kleine Traumgeist unterhalb der Wolkengrenze an. Am Boden breitete sich eine Stadt der Menschen aus. Sofort spürte Yume den Ruf des Träumenden. Sie brauchte ihm bloss zu folgen. Sobald Sie bei ihm war, war sie endlich in Sicherheit. Kurz bevor sie zwischen den Häusern abtauche, blickte Sie zurück. Vor lauter Schreck wäre sie beinahe in eine hohe Pappel gestürzt. Nur mit Mühe verhinderte sie das Unglück und versuchte noch schneller zu werden. Sie wollte nicht an ihrem ersten Tag scheitern!

Der Ruf wurde stärker, ein Zeichen dass sie sich ihrem Ziel näherte. Sie gab noch einmal alles, konnte schon das Fenster sehen, auf das sie zuraste. Hinter sich spürte sie die knisternde Energie des Traumteufels, der ihren Traum wollte. Er streckte bereits die Hände nach ihr aus, als sie endlich beim Fenster ankam. Zu ihrem Entsetzen war es schräg gestellt. Während Sie sich hindurchzwängte krallte der Traumteufel nach ihr. Die Spitzen Klauen bohrten sich in ihren Körper und gierten nach dem Traum, den sie unter dem Herzen trug. Nein! Mit ein einem verzweifelten Ruck riss sie sich los und purzelte vollständig ins Zimmer. Instinktiv hob sie schützend die kleinen Arme über ihren Kopf um die Krallen abzuwehren. Doch sie blieben aus. Vorsichtig linste sie zwischen ihren Fingergliedern hindurch.

Der Traumteufel hatte sich in einem eigenartigen Netz verfangen. Es war auf einen runden Holzrahmen gespannt und leuchtete blau, als es die wütenden Energien des Teufels absorbierte. Egal wie fest sich der Gefangene wehrte, er kam nicht los. Yume jauchzte auf und hätte einen kleinen Freudentanz hingelegt, hätte nicht der Traum in ihr angefangen, sie beharrlich Richtung Bett zu ziehen. Der Schlafende rief sie. Behutsam holte sie den Traum aus sich heraus und übergab ihn an den Menschen. Ein Seufzer der Erleichterung kam ihr über die Lippen. Sie hatte es geschafft.