Ein grosser roter Fleck.

Da. Am äusseren Rand meines Oberschenkels. Wenn ich mit dem Finger darüber fahre, bemerke ich die kleine Erhebung unter meiner Haut. Sie ist verhärtet. Ich drücke drauf. Ein plötzlicher, aber kurzer Schmerz durchfährt meine Glieder. Rasch ziehe ich die Hand zurück. Mir steigen Tränen in die Augen, aber ich kann den Blick nicht abwenden; bringe das Bild dieses grossen roten Flecks nicht mehr aus meinem Kopf.

Dieser Fleck, der mein Todesurteil sein würde.

Dabei hat der Tag eigentlich ganz gut angefangen. Ich bin früh ins Bett gestern, habe seit Langem wieder durchgeschlafen. Als ich aufgestanden bin, wurde ich von einem fast vergessenen Gefühl erfasst: Erholung. Da war keine Müdigkeit. Keine nachhallenden Erinnerungen der Träume, die mich jede Nacht heimsuchen. Keine Augenringe, als ich in den Spiegel sah. Nichts als Ruhe um mich herum.

Die Ruhe vor dem Sturm, wie sich nun herausgestellt hat.

Ich lasse mich aufs Bett sinken. Eigentlich wollte ich duschen gehen. Ich habe mit Alex abgemacht heute Abend, auf einen Drink. Nur wir zwei. Ich habe mich gefreut. Wirklich. Darauf habe ich so lange gehofft. Davon habe ich so lange geträumt. Doch plötzlich ist alles anders. Der nahende Tod hat die Dinge in eine völlig andere Perspektive gerückt und ich habe nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen oder mich hochzuhieven.

Mein Herz rast. Meine Hände zittern. Meine Brust fühlt sich an, als wäre sie in ein enges Korsett gepresst worden. Ich habe das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu kriegen. Mein Körper wird zusammengedrückt von unsichtbaren Wänden. Ich kann nicht entkommen. Ich kann nirgends hin. Die Panik bahnt sich an, ohne Vorwarnung, ergreift Besitz von mir und lähmt mich.

Ein roter Fleck.

Die Maschine in meinem Kopf beginnt zu rattern. Ich muss nicht einmal mehr googeln. Ich habe über so viele Krankheiten recherchiert, dass sich die Symptome wie Tattoos in meinem Gedächtnis eingebrannt haben.

Rote Flecke auf der Haut. Müdigkeit. Knochenschmerzen.

Die Anzeichen sind eindeutig. Ich weiss, dass es Krebs sein muss. Leukämie. Ich weiss, dass es tödlich sein muss. Ich ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die mich anschreit, mich zu beruhigen. Es sei nur ein blauer Fleck. Eine Kleinigkeit. Nichts, worüber ich mir Sorgen machen solle.

Ich will der Stimme zuhören. Ich will glauben, was sie mir sagt, weil ich tief in meinem Inneren weiss, dass sie recht hat. Aber ich kann mich. Mein Körper hört mir nicht zu. Er rebelliert. Gegen mich, gegen meinen Verstand, gegen jegliche Logik. Ich kämpfe gegen ihn, gegen die Dinge, die er mich fühlen lässt, aber es ist ein aussichtsloser Kampf. Ich weiss, dass ich nicht gewinnen kann. Ich kann meinem Herz nicht befehlen, ruhiger zu schlagen. Ich kann das Zittern meiner Finger nicht aufhalten. Ich bin machtlos. Ich habe keine Kontrolle über mich; und allein diese Erkenntnis lässt das Korsett enger und enger werden. Ein Teufelskreis ohne Ausweg.

Ich kauere mich zusammen.

Über ein Jahr geht das nun schon so. Angstzustände, nennen sie das. Irrationale Angst. Panikattacken. Eine Reaktion auf lange anhaltenden psychischen Stress, hat meine Therapeutin gesagt.

Für mich ist sie einfach nur die Angst.

Sie war schon immer da. Sie ernährt sich von der Dunkelheit und von den sich ständig rasenden Gedanken in meinem Kopf. Sie ist mächtig. Vielleicht zu mächtig für mich. Ich weiss nicht, wie ich gegen sie ankommen kann. Wie soll man gegen etwas kämpfen, das man weder sehen, noch hören, noch fühlen kann? Wie soll man etwas töten, das so tief im Kern der eigenen Existenz verankert ist?

Das Läuten der Türklingel lässt mich zusammenzucken. Ich schrecke hoch. Mein Körper ist nassgeschwitzt und angespannt.

Ich starre auf die Tür. Habe ich mir das nur eingebildet? Ist das der nächste Schritt in den Wahnsinn? Halluzinationen?

Es läutet erneut.

Ich raffe mich aus dem Bett. Meine Knie sind weich, aber meine Atmung hat sich wieder etwas beruhigt. Wie in Trance tappe ich durch die Wohnung und öffne die Tür.
Es ist Alex. Er sieht mich an. Lächelt.

»Hi«, sagt er. »Ich weiss, dass wir uns erst in einer Stunde treffen wollten. Aber ich konnte einfach nicht mehr länger warten.« Er hält einen Strauss Tulpen hoch. »Ich habe dir Blumen mitgebracht.« Sein Blick haftet an meinem Gesicht. Plötzlich verändert sich etwas. »Alles okay bei dir?«, fragte er. »Du bist so blass.«

Ich will nicken. Ich will ihm sagen, dass alles in Ordnung ist, wie ich es immer tue.

Aber dieses Mal kommen die Worte nicht über meine Lippen.

Stumm schüttle ich den Kopf.

Er sieht mich an. Er nimmt mich in den Arm. Er zögert nicht einmal. Ich beginne zu weinen und halte mich an ihm fest. Er führt mich zurück in die Wohnung und ich setze mich an den Tisch, während er für uns beide Tee zubereitet. Dann erzähle ich ihm alles. Die Sätze sprudeln nur so aus mir heraus. Ich spüre, wie das Korsett sich löst. Ich kann wieder atmen.

Er nimmt meine Hand. Reicht mir ein Taschentuch, um meine Tränen zu trocknen. Es tut gut. Das Biest, das sich Angst nennt, kehrt zurück in seine Höhle. Ich weiss, dass es wiederkommen wird. Das tut es immer.

Aber heute geht der Sieg an mich.