Als erstes fiel Tim auf, dass sein Radio nicht funktionierte. Es rauschte einfach weiss vor sich hin, egal auf welcher Frequenz. Tim schob es auf das beträchtliche Alter des Geräts. Er machte sich also parat, was in seinem Fall hieß, dass er kurz unter die Dusche sprang, das erste anzog, was er tastend im Schrank erwischte und im Stehen ein Nutellabrötchen verdrückte. Anstatt die Zähne zu putzen, steckte er sich die V6-Kaugummis ein und schnappte sich ein kleines Tetrapack mit O-Saft. Den musste er vor dem Kaugummi konsumieren, damit er nicht nach Spühlmittel schmeckte.

Tim wohnte mitten in der Grossstadt. Ihm war es wichtig, nah am Puls des Geschehens zu sein. Als er an diesem Tag jedoch auf die Strasse trat, fehlte das übliche Gewusel. Kein einziger Mensch war zu sehen, kein Auto, keine Strassenbahn, nichts. Ob sie wohl die Strasse oben und unten abgesperrt hatten? Er zückte sein Smartphone und rief die Google Startseite auf. Fast hätte er mit einem Fehlercode auf dem Bildschirm gerechnet, aber aufatmend lud der Newsfeed: Finanzkrise hier, Unfall dort, TV-Sternchen verlobt, Altrockstar tot. Moment. Ann-Karin Schöneberger hatte sich doch schon am Samstag mit ihrem Boxchampion verlobt, warum zeigte Google dies immer noch als News an? Bei genauerem Hinschauen bemerkte er, dass alle Beiträge von Sonntag war, Der letzte war von 23:24. Auch mehrmaliges Laden brachte keine neuen Ergebnisse.

Ein mulmiges Gefühl nistete sich in seiner Magengrube ein. Etwas stimmte nicht. Im Vorbeigehen linste er in die verschlossenen Läden hinein. Nichts rührte sich darin. War vielleicht das ganze Quartier evakuiert und er war vergessen worden?

Hoffend bog er um eine Ecke und fand sich auf einer breiten Allee wieder. Normalerweise herrschte hier ein beständiger Verkehrslärm und die Morgenpendler schoben sich übermüdet über den Asphalt. Heute war alles leer. Die Panik kaum noch in Schach haltend, wählte er die erste Nummer in seiner Kontaktliste. Er war schon hoffnungsvoll, als er die vertraute Stimme hörte, doch dann leierte Andrea die Combox-Ansage herunter.

Auch das Büro seines Arbeitgebers war verwaist.

Eine Weile versucht er an diversen Computer und Laptops mehr herauszufinden, aber er wurde nicht schlauer aus der Situation. Alles funktionierte noch, zeigte jedoch keine aktuellen Inhalte an.

Frustriert ging er nach Hause und stellte seine Konsole an. Wenigsten ging sein Lieblingsspiel noch. Um sich abzulenken begann er eine Kampagne und ehe er sich versah, war es sieben am Abend. Ein kurzer Check sagte ihm, dass die Situation immer noch gleich war. Da er nicht wirklich sah, was er daran ändern konnte, machte er sich eine Tiefkühlpizza, zockte nochmals eine Runde und ging ins Bett.

Am nächsten Tag riss ihn sein Radiowecker zuverlässig aus seinen Träumen. Ein Blick aus dem kleinen Küchenfenster zeigte Verkehr auf der Strasse und auch Google hatte einen neuen Newsfeed: Tierschützer protestieren vor Schlachthof, Teenie-Idol in Koma nach Überdosis, 5 Tipps um den Montag besser bewältigen zu können.

Montag? Die Welt hatte immer noch Montag?

Tim konnte sich die gestrigen Ereignisse nicht erklären, doch er war froh, dass nun alles wieder normal war. Je länger die Woche dauerte, desto sicherer war er sich, dass er sich alles nur zusammengeträumt hatte. Vielleicht hatte er ja irgendwelche Pillen geschluckt, an die er sich nicht erinnern konnte?

Aber dann kam der nächste Montag und wieder war alles gleich: Keine Menschenseele war da. Dieses Mal erkundete er mit einem ausgeliehenen Velo sämtliche Quartiere der Stadt und nirgends entdeckte er auch nur einen Menschen.

Deswegen tat er, was schon letztes Mal geholfen hatte und zockte.

Dann an seinem Dienstag waren wieder alle Menschen da.

Am dritten vermeindlichen Montag streckte er nur noch den Kopf aus dem Fenster, um seine Befürchtung zu bestätigen. Den restlichen Tag verbrachte er mit Gamen. Allmählich gewöhnte er sich an seinen Egotag. Arbeitskollegen lobten ihn für seine entspannte Haltung am Anfang der Woche.

Als er sein Spiel durch hatte, ging er das erste Mal wieder an einem Timstag, wie er ihn nun nannte, hinaus. Es war ein herrlicher Frühlingstag und er fuhr mit einem anderen ausgeliehen Velo die menschenleeren Strassen entlang, als er plötzlich eine Bewegung in einem Park vernahm. Er bremste scharf und änderte seine Fahrtrichtung. Eine junge Frau lief ihm entgegen. «Hey du! Warte!», rief sie aufgeregt.

«Ich bin Claudia. Woher kommst du? Weißt du wo die anderen sind? Mein Gott, ich dachte ich sei alleine!»

Ihr Wortschwall traf Tim völlig unvorbereitet. Er starrte immer noch ihre niedlichen Sommersprossen an, als ihm bewusst wurde, dass er etwas sagen sollte. «Äh, ich bin Tim. Keine Ahnung wo die anderen sind. Aber das passiert schon seit einigen Wochen.»

«Bei mir sind es 8 Wochen!»

«Kommt ungefähr hin.»

«Weißt du warum? Ich war schon in der Bibliothek und habs gegoogelt, wurde aber nirgends fündig.»

«Äh, ja. Also ich weiss auch nicht warum das passiert. Ich hab Timstag einfach irgendwann gelernt zu akzeptieren.»

«Timstag?», fragte sie verwirrt nach. Tim wurde knallrot und nuschelte: «Nun, ich musste ihn ja irgendwie nennen.»

«Da hast du Recht. Also, was hast du all die … Timstage über gemacht?» Doch ehe Tim Antworten konnte, fuhr Claudia bereits fort: «Ich hab natürlich versucht grosse Probleme zu lösen, aber in einem Tag kriegt man nicht allzuviel hin. Deswegen hab ich angefangen, kleine Dinge zu erledigen. Zum Beispiel den Garten meines alten Nachbarn zu jäten, denn er hat Rheuma oder Citybikes aus dem Fluss zu fischen – obwohl es dafür noch ein bisschen zu kalt ist. Es ist nicht viel aber …» Sie strich sich verlegen eine braune Locke aus der Stirn.

Tim dachte an die Tage, die er mit Zocken verbracht hatte. «Ich bin eher für mich alleine geblieben», gab er zu.

«Was hältst du davon, mir nächsten Timstag zu helfen? Ich wollte Abfall an der Uferpromenade sammeln. Dann können wir ja besprechen, was wir sinnvolleres Tun können mit unserer Zeit. Vielleicht gibt es noch weitere wie wir. Wir könnten ein Netzwerk gründen. Denk nur daran, was wir alles zusammen erreichen könnten!» Claudia strahlte übers ganze Gesicht. Ihre gute Laune wirkte ansteckend. Wie konnte Tim da nein sagen?

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