«Hier, das ist deins!»

Raven wusste gar nicht wohin sie zuerst schauen sollte: auf den gutaussehenden Mann mit der Fliegerbrille und der schwarzen Rockabillyjacke oder das Bündel am Ende seiner ausgestreckten Arme, das eindeutig ein Baby enthielt. Das Kind wimmerte leise vor sich hin. Die Augen hatte es geschlossen. Lange dunkle Wimpern in einem zerknautschten Gesicht sowie brauner Flaum waren sichtbar. Der Rest war in ein blaues Wolltuch gewickelt.

Kurz verschlug es ihr die Sprache, dann lachte sie laut auf. «Guter Scherz. Nimmst du das auf? Sind wir live?»

«Darf ich reinkommen?», bat der Fremde statt einer Antwort zu geben.

Da ihr der Mann gefiel, war sie nicht abgeneigt, einen kurzen Schwatz zu halten. Sie trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.

«Wie heisst du eigentlich?», fragte sie, schloss die Türe und ging ihm hinterher als er zielsicher in ihr Wohnzimmer steuerte.

«Philip», seufzte er und hielt ihr nochmals das Baby hin.

Raven machte keine Anstalten, das Neugeborene entgegenzunehmen. «Wessen Kind ist das nun?» Ihr fiel niemand in ihrem Bekanntenkreis ein, der sein Kind dafür hergeben würde, oder der auch nur eines im passenden Alter haben würde.

«Deins, Sira», sagte Norman.

«Ah!», entfuhr es Raven erleichtert. «Du verwechselst mich! Mein Name ist nicht Sira und ich denke, ich wüsste es, wenn ich ein Kind hätte!», sie zwinkerte ihm zu. «Bist du der Vater? Hat sie dich sitzen gelassen?» Sie wollte noch mehr sagen, doch der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers veränderte sich. Endlich zog er die Arme zurück und schmiegte das Baby an seine Brust.

«Das warst du, Sira. Und nicht zum ersten Mal. Aber ich dachte, nun, nachdem wir ihn hier haben», er nickte zum Bündel hinunter, «dass du damit aufhörst.»

Raven bewunderte diesen Philip dafür, dass er so gut in seiner Rolle aufging. Vielleicht war er ja ein professioneller Schauspieler? Zumindest spielte er die Erschöpfung und die Ungeduld gut.

«Na gut, gib ihn einmal her. Mal schauen, ob er mir gleicht», grinste sie und nahm das Kind entgegen. Sie hatte noch nie begriffen, wie die Leute Ähnlichkeiten zu den Eltern in diesen universellen Babygesichtern entdecken konnten. Ihr eigenes Haar war viel dunkler als der feine den Kopf bedeckenden Flaum. Das speckige Gesicht machte es zudem unmöglich irgendeine spätere Gesichtsform zu erahnen. Selbst wenn der Bub die Augen öffnen würde, hätte er wahrscheinlich blaue Augen, denn alle Babys hatten doch blaue Augen, nicht?

Kritisch musterte sie Philip, der inzwischen seine verspiegelte Sonnenbrille abgenommen hatte. Seine Augen waren von einem überraschend intensiven Grün. Sie ertappte sich dabei, wie sie drohte, sich in diesen grünen Iriden zu verlieren und musste sich einen Ruck geben.

Ernst blickte er sie an und auf einmal bekam sie es mit der Angst zu tun. Was wenn an der Geschichte etwas Wahres dran war? Aber wie konnte so etwas passieren? Sie wüsste doch sicherlich, wenn sie schwanger gewesen wäre, oder? Doch nun da sie das Geschöpf in ihren Armen hielt, konnte sie sich des warmen Gefühls, das sie durchströmte nicht verwehren. War das ihr natürlicher Mutterinstinkt oder einfach eine genetische Reaktion gegenüber allen Kindern?

Ihre Knie wurden weich. Philip merkte das, sah sich um und schob ihr einen Stuhl heran. Schwer liess sie sich darauf plumpsen. «Wie?», brachte sie nur heraus.

Philip setzte sich selbst auf einen Stuhl und stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Eine Weile starrte er auf den Boden zwischen seinen Beinen. Schliesslich stiess er erschöpft hervor: «Du hast ein paar Mal damit gedroht. Aber ich hätte nie gedacht, dass du ernst machen würdest.»

«Was, was habe ich denn gemacht?», fragte die junge Frau nun ebenfalls aufgebracht. Hätte sie den Kleinen nicht immer noch gehalten, wäre sie aufgestanden und aufgebracht herumgetigert. Doch das Baby schlief nun offensichtlich und sie wollte es nicht wecken.

«Einen Reset.»

Raven starrte ihn an, ihr Gesichtsausdruck fragend.

«Du weisst gar nichts mehr, oder?», flüsterte Philip, schien aber keine Antwort zu erwarten. Dann begann er zu erzählen: «Dein Name war Sira. Wir haben uns beim Speed-Dating kennengelernt.» Der Schatten eines Lächelns huschte über seine Lippen als er sich erinnerte. «Es hat sofort geknistert und wir waren beide ziemlich aus dem Häuschen. Wir hatten nicht viel von diesem Abend erwartet. Am Anfang war alles super. Wir schwebten auf Wolke 7. Aber irgendwann hast du Zweifel bekommen. Du hast dich von mir eingeengt gefühlt. Meine Version ist, dass du Bindungsangst hast. So ist das eine Weile gegangen, wir konnten nicht zusammen aber auch nicht ohne einander.»

Er schwieg kurz und sein Blick ruhte nun auf dem Baby. «Dann ist dieser Unfall da passiert und für eine Weile hat alles darauf hingedeutet, dass wir doch noch die Kurve kriegen. Du bist richtig aufgeblüht. Aber kaum war er da, warst du wieder die Alte, sogar noch schlimmer. Die Ärzte haben es Schwangerschaftsdepression genannt. Mehrfach hast du damit gedroht, das Handtuch zu werfen. Ich hab Jonas hier», er nickte zum Bündel, «als Druckmittel benutzt, damit du bleibst. Hab dir vorgehalten, dass du das nicht mit deinem Gewissen vereinbaren könntest.»

Abwesend fuhr er sich mit der Hand durch das dunkle Haar. «Du wusstest, dass ich recht habe. Dann hast du von RESET erfahren. RESET ist ein umstrittenes StartUp, das eine Methode gefunden hat, wie sie Menschen ihre Identität nehmen und sie mit einer neuen überschreiben können. Du hast dir offenbar diesen «Raven-Charakter» ausgesucht. Obwohl du einige Male davon gesprochen hast, habe ich dich nicht ernst genommen. Für deine Abwesenheiten habe ich schnell Erklärungen gefunden. Bis du dann plötzlich nicht mehr gekommen bist. Durch einen Freund bei der Polizei habe ich dich schliesslich hier aufgespürt. Das ist deine alte Wohnung.»

Raven starrte den jungen Mann mit den dunklen Augenringen an. Auch wenn sie sie nicht wahrhaben wollte, sie sah die Wahrheit in seinem Gesicht.

Sie schluckte und blickte wieder auf ihren Sohn. «Gibt es ein zurück? Kann ich wieder ich sein?», wisperte sie dann fragend.

«Nein. RESET ist permanent.»

«Und was machen wir jetzt?», fragte sie den Tränen nah.

«Von vorne Anfangen, vielleicht? Vielleicht hat Raven ja keine Bindungsangst?» Er lachte schief: «Hi, ich bin Philip.»