Höllenwärter
«Euer Anblick verschafft mir tiefe Befriedigung, Somerset.»
Der Gefängniskommandant musterte seinen neusten Insassen zufrieden. Die ehemals makellose Uniform war dunkel vor Schmutz und altem Blut. Ein struppiger Bart verunstaltete das edle Gesicht, mit der markanten Nase und den eisblauen Augen. In diesen Augen loderte immer noch dasselbe Feuer, das diesen Mann zum mächtigsten Kriegsherrn für den König gemacht hatte. Aber diese Zeiten waren vorbei.
Es gefiel Fletcher nicht, dass sein Gefangener trotz seinem verwahrlosten Äusseren noch so viel seines üblichen Charisma ausstrahlte.
«Keine Angst, ich werde dir deinen Stolz schon noch austreiben», zischte er deshalb. «Wir werden dich brechen, wie alle anderen hier, bis du nur noch ein Scherbenhaufen bist.»
Sehr zu seinem Missfallen, blieb Somerset trotz diesen Worten ungerührt.
«Los, schafft ihn weg. Spätestens morgen wird ihm die Arroganz schon vergehen.»
Fletcher wartete, bis die Sonne am nächsten Tag am höchsten stand und erbarmungslos herunterbrannte. Denn dieses Gefängnis war kein düsterer Bau, mit dunklen, modrigen Löchern. Die von Menschen gemachte Hölle befand sich auf einer Insel. Alle Insassen hier schufteten bis zum Tode. Niemand bekam hier einen fairen Prozess oder war je entlassen worden.
Fletcher freute sich darauf, seinen einstigen Widersacher in der Hitze schmoren zu sehen. Der Gefängniswärter schnappte sich seinen breitkrempigen Hut, trank nochmals einen ausgiebigen Schluck Wasser und machte sich dann auf den Weg.
Bereits nach wenigen Schritten im Freien schoss ihm der Schweiss aus den Poren. Beim Gedanken wie es Somerset gehen musste, der seit dem Sonnenaufgang hier draussen war, kroch ein Lächeln auf Fletchers Gesicht.
Als er die schlurfenden Gestalten mit ihren Fussfesseln jedoch erreichte, musste Fletcher ungläubig feststellen, dass Somerset selbst im Lederschurz, einem zwanzig Kilo Sandsack auf dem Rücken und mit zusammengeketteten Füssen noch eine stolze Figur abgab. Durch die Fesseln behindert schlurften die meisten mit winzigen Schritten vorwärts. Nicht so Somerset. Unbeirrt marschierte er hin und her und trug Sack um Sack ohne zu murren.
Als der Gefangene mit einem Sack an ihm vorbeistapfte, stellte sich Fletcher ihm in den Weg.
«Du denkst, das hier ist hart? Das hier ist noch nichts. Wir werden dich so zerbrechlich machen wie das Glas, das wir hier herstellen!», versprach Fletcher ihm.
Somerset schulterte den Sack neu und stapfte wortlos an Fletcher vorbei.
Schäumend verzog sich der Gefängniskommandant in sein angenehm temperiertes Arbeitszimmer. Von dort aus ordnete er an, dass Somerset versetzt und nur noch halbe Tagesrationen bekommen würde.
Den nächsten Besuch plante er später ein, damit die neue Umgebung auch Zeit hatte, Somerset in die Knie zu zwingen.
Fletchers Haut prickelte, als er sich auf den Weg zum Ort machte, der gemeinhin nur «die Hölle» hieß. Dagegen war die Hitze der Grube nichts, denn hier brannten die gewaltigen Hochöfen, mit denen all der Quarzsand zu Glas geschmolzen wurde. Die Gefangen mussten die riesigen Blasbalge bedienen und den Sand zu den Schmelztigeln schleppen.
Die wenigsten hielten es hier länger als ein paar Wochen aus.
Fletcher keuchte, als die heiße Luft in seine Lunge drang und ihm den Atem raubte. Je mehr ihm diese unwirtliche Gegend zusetzte, desto mehr Vorfreude verspürte er.
Er schob sich an Männern vorbei, die kaum mehr als russige Skelette waren, über die man schwarz glänzende Haut gespannt hatte. Ein Wächter lotste ihn immer tiefer in die Gedärme der Hochöfen.
«Er ist hier eingeteilt», erklärte er und deutete von ihrem erhöhten Standort auf eine Ebene unter ihnen. Dort schleppten die Zwangsarbeiter die Säcke zu den Schmelztrögen.
Fletcher ließ seinen Blick über den armseligen Haufen schweifen, als er ein Knäuel aus Männern ausmachte.
«Was ist das dort für ein Aufruhr?»
«Wahrscheinlich ist jemand zusammengebrochen. Das passiert hier häufiger.»
Fletcher rieb sich die Hände. War es zu viel verlangt, zu hoffen, dass Somerset dort unten um seinen letzten Atemzug kämpfte? Das konnte er sich nicht entgehen lassen!
Schneller als es die Hitze eigentlich zuließ, eilte er die Stiege hinunter und drängte sich durch die Menge.
In deren Zentrum befanden sich am Boden zwei Gefangene. Das diffuse Licht und der Grad ihrer Verschmutzung machte eine Identifikation schwierig. Der Liegende hätte Somerset sein können. Seine Lippen waren so trocken, dass sie gerissen waren und nun träge bluteten. Das filzige Haar hätte einmal ein stolzer Lockenschopf sein können.
Der andere, Kauernde, hob den Blick. Da waren sie wieder, zwar tief in den Höhlen liegend, von Schmutz und Schatten eingerahmt, doch unverkennbar seine eisblauen Augen.
Half er diesem Idioten am Boden etwa? Es sah fast so aus, als halte Somerset eine Trinkflasche in der Hand. Diese wurde nur zweimal am Tag gefüllt. Wer sorglos mit dem Inhalt umging, der dehydrierte schnell.
«Was tust du da?», tobte Fletcher. Ehe Somerset antworten konnte, trat der Gefängniswärter zu. Die Trinkflasche fiel aus Somersets Händen, als er sich instinktiv zusammenkrümmte, um seine Körpermitte zu schützen. Wie besinnungslos schlug und trat Fletcher auf den wehrlosen Mann ein.
Halbtot ließ er ihn schließlich im Dreck liegen. Während er sich in seinem Arbeitszimmer einen eisgekühlten Wein gönnte, beschloss Fletcher, dass es wohl am besten war, Somerset einfach zu vergessen. Niemand überlebte die Hölle, schon gar nicht, wenn er so schwer verletzt war wie der ehemalige Feldherr.
Fletcher schaffte es, den unliebsamen Gefangenen aus seinen Gedanken zu verbannen und führte sein Gefängnis genau so weiter, wie er es immer getan hatte. Mit einer eisernen Härte und ohne Erbarmen.
Eines Nachts wachte er abrupt auf. Er hörte Rascheln und es stank eigenartig nach … Russ!
Entsetzt riss er die Augen auf. Vor ihm stand eine Gruppe unterernährter Männer. Das Weiss ihrer Augen strahlte ihn aus ihren schwarzen Gesichtern entgegen. Ein Augenpaar war eisblau.
«Du lebst noch? Wie ist das möglich?», krächzte Fletcher.
«Das stärkste Glas besteht aus einzelnen Sandkörnern, die sich verbündet haben, Fletcher. Du hast schon immer stets für dich alleine gesorgt. Deswegen bin ich Feldherr geworden und du Gefängniswärter.» Somersets Stimme war rau.
«Ihr könnt ihn haben, Männer. Ich lass mir meinen Frieden nicht von ihm ruinieren.» Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Raum. Drohend kamen die schwarzen Gestalten auf Fletcher zu.
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eingefleischte Fantasy-Liebhaberin; Stammautorin beim Verlagshaus el Gato; ist der Meinung, dass es nie schaden kann, sich als Autorin (und Mensch) immer wieder neu zu erfinden; ach ja und Brandon Sanderson ist der Beste.