Raffi senkt den Kopf und presst die Lippen zusammen. Der beissend kalte Wind fährt ihm durch die zahlreichen Kleidungsschichten und nistet sich tief in seinen Knochen ein. Die Umgebung ist unglaublich kalt und somit geruchlos, sodass sie beinahe schon steril wirkt. Das endlose Weiss um ihn herum hilft zudem nicht, um das Gefühl von Desorientierung loszuwerden. Er ist eingehüllt von eisigen, weissen Kristallen. Oben und unten ist einzig dadurch zu unterscheiden, dass seine Füsse den Boden berühren. Oder zumindest hofft er das. Die Einsamkeit dieser Welt lässt ihn langsam an seinem Verstand zweifeln. Trotzdem setzt er mit eisernem Willen einen Fuss vor den anderen. Er hat immer gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Sein Ziel ist der Gipfel. Entweder er erreicht ihn oder er stirbt beim Versuch dabei.

Raffi hält inne und schnauft dabei schwer. Seine Lungen brennen und auch der Rest seines Körpers protestiert wegen den ungewohnten Strapazen. Mein ich das wirklich so? Bin ich bereit zu sterben? Er steckt die klammen Hände unter die Achseln, um sie ein wenig zu wärmen. Solche melodramatischen Gedanken kennt er gar nicht von sich. Vielleicht steckt ihn die Endzeitstimmung seiner Freunde langsam an. Er und seine Freunde müssen sich für einen Erwerb entscheiden. Alle sind gleich überfordert mit dieser Entscheidung, die den Rest ihres Lebens beeinflussen wird. Während die einen hektisch ein Schnupperpraktikum nach dem anderen absolvieren, schwören die anderen darauf, ihre Eltern, Verwandten und Bekannten um Rat zu fragen. Raffi findet beides nicht hilfreich. Seine Eltern arbeiten beide in der Osterhasenfabrik. Viele seiner Verwandten sind ebenfalls in der Schokoladenbranche tätig. Einige Ausreisser hat es zu den grossen Bäckereien gezogen, aber niemand hat wirklich etwas neues gewagt. Aber Raffi hat keine Lust in der Produktion zu bleiben. Er will sich neu erfinden. Auch die verschiedenen Praktika haben bis jetzt keine Flamme in ihm entfacht.

Sein Atem hat sich soweit wieder beruhigt, dass er weitergehen kann. Die ersten paar Schritte gehen leicht, doch dann kehrt das vertraute Brennen in den Beinen wieder zurück. Aber Raffi beisst die Zähne zusammen und stapft weiter. Er verbannt den Schmerz und die Sorgen um seine Zukunft und konzentriert sich einfach nur auf die direkt vor ihm liegende Aufgabe. Fast ist er froh, dass die wirbelnden Flocken um ihn herum, ihm die Sicht nehmen. Ohne ein Gefühl für die zurückgelegte Distanz kämpft er sich den steilen Hang hoch. Eine Art Trance nimmt ihn gefangen und verbannt alle lästigen Gedanken, die wie aufgeregte Bienen in seinem Kopf herumgeschwirrt sind. Endlich herrscht Stille. Klarheit.

Unvermittelt tritt sein Fuss ins Leere. Raffi strauchelt und versucht ungelenk das Gleichgewicht wiederzufinden. Mit Mühe reisst er sich aus seiner Trance und nimmt seine Umgebung wieder wahr. Als er realisiert, dass er soeben den Gipfel erreicht hat, macht sein Herz vor Glück einen Aussetzer, nur um dann im doppelten Rhythmus weiterzuschlagen. Der Wind braust ihm immer noch entgegen, aber wie zur Belohnung legt sich allmählich der Flockentanz um ihn herum und er kann die atemberaubende Aussicht geniessen. Raffi spürt ein Grinsen in sich aufsteigen und stösst einen lauten Jauchzer aus. Ich habe es geschafft!

Unter ihm breitet sich das ganze Land wie eine Karte aus. Er sieht die Obstgärten mit ihren gewaltigen Früchten, die träge vor sich hinblubbernden Eintopf-Seen, die glitzernden Sirupbäche und die Brotdünen. Zum Osten hin ragen die grossen Eierschalendecken der Osterhasenfabrik auf. Ein brauner Dunst liegt über dem Gebiet. Zum Süden hin schlägt das Schaumweinmeer gegen die sanft geschwungenen Pastaküste. Im Westen ist der Blick klar bis zur weit entfernten Schokoladenpudding-Grenze, die das ganze Schlaraffelland eingrenzt. Schlussendlich bleibt nur noch die Zuckertundra im Norden.

Raffis Blick gleitet dem Berghang entlang. Der weisse, steifgefronene Schlagrahm glitzert verführend im Sonnenlicht. Doch weiter unten wird die Wärme zu intensiv, sodass er langsam schmilzt und die Hänge hinuntertropft. Schliesslich wälzt sich der Fluss langsam über die Hügel und mäandert von da an durch die Ebenen bis zur Schokoladenpuddinggrenze.

Das ungewohnte Panorama brennt sich tief in Raffis Gedächtnis ein. Hier oben bekommt alles Perspektive. Alles macht Sinn, hat seinen Platz in der Welt. So wie auch er seinen Platz finden wird. Aber der liegt nicht im Schlaraffelland, wird sich Raffi plötzlich bewusst. Die Puddinggrenze gibt ihm die lang ersehnte Antwort: Er wird das Schlaraffelland verlassen und die Welt dahinter erkunden. Er wird Entdecker werden!