»Havanna!«, rief Daniel, als er die Hände in die Luft gestreckt inmitten der Kopfsteinpflasterstraße stand. Ernesto stand gegen die Hausfassaden gelehnt im Schatten.
»Zu. Heiss«, keuchte er.
Daniel lachte und stemmte die Arme in die Hüfte. »Ich frage mich ja schon, wer von uns beiden die kubanische Mutter hatte …«
»Haha«, sage Ernesto ohne Humor. »Vaters Gene haben hier definitiv überhandgenommen.«
»Nicht bei mir«, grinste Daniel. »Irgendwann muss ich auch mal Ahnenforschung betreiben.« Er trat an Ernesto heran. »Aber jetzt kümmern wir uns erst mal um dich, Bruderherz. Deine Wurzeln findest du so nicht.«
»Ich weiss«, stöhnte Ernesto. »Aber das Klima killt mich. Ich geh zurück ins Hotel.«
»Na schön«, sagte Daniel. »Ich geh runter zur Promenade. Wenn ich deine Vorfahren finde, grüss ich sie von dir.«
Sie verabschiedeten sich und Ernesto machte sich auf den Rückweg zum Hotel. Er musste aber schnell merken, dass die Straße inzwischen an der prallen Sonne lag. Er bereitete sich schon mal auf einen Sonnenstich vor, als er eine kleine Gasse passierte. War die vorher schon hier gewesen? Farbige, eng stehende Fassaden sorgten dafür, dass kein Sonnenstrahl bis zum Boden drang. Außerdem führte die Gasse einigermaßen in Richtung Hotel. Das musste genügen.
Nach mehreren Minuten ohne Spur von anderen Menschen, erkannte Ernesto ein Geschäft an der nächsten Ecke. Etwas zu trinken würde er dort jedoch nicht kriegen, denn es handelte sich dabei um einen Zigarrenladen.
Er wollte bereits weitergehen, als der Mann im Schaufenster ihn hereinwinkte. Der Laden wirkte nicht wie eine Touristenfalle. Vielleich konnte er ihm ja einen Schluck Wasser abschnorren?
Er gab sich einen Ruck und betrat das Geschäft. Sofort schlug ihm eine Duftwelle von getrocknetem Tabak entgegen. Ernesto rauchte nicht, hatte den süßlichen Zigarrenrauch jedoch immer als angenehm empfunden.
Der Mann grüßte ihn und fügte etwas auf Spanisch hinzu, was Ernesto nicht verstand.
»Du suchst etwas«, sagte der Mann dann in gebrochenem Englisch.
Ernesto verzog das Gesicht. »Ein Glas Wasser wäre ganz gut«, scherzte er, doch der Mann schüttelte nur den Kopf.
»Das ist nicht, was du suchst.«
Nun runzelte Ernesto die Stirn. »Entschuldigung?«
Der Alte huschte hinter die Theke und kehrte mit einer Flasche Wasser zurück. Ernesto nahm sie dankend entgegen und trank. Als er die Flasche abstellte, lächelte der Mann breiter und seine Augen leuchteten.
»Was suchst du?«
›den Weg ins Hotel‹, wollte Ernesto bereits sagen, aber er war sich sicher, dass das nicht war, worauf der Alte herauswollte.
»Meine …«, begann Ernesto zögerlich. »Meine Mutter.«
Der Alte nickte wissend. »Erzähl mir davon.«
»Sie kehrte nach meiner Geburt nach Kuba zurück. Vor kurzem starb sie«, erklärte Ernesto. »Ich weiss nichts von ihr und…«
»Und du willst deine Wurzeln finden.« Der Alte breitete die Arme aus. »Rauchst du?«
Ernesto schüttelte den Kopf.
»Ah«, machte der Alte und stand auf. Vorsichtig abmessend schritt er die Regale ab, blieb ab und zu stehen, drehte eine der Zigarren in den Händen, roch daran und legte sie wieder zurück. Schließlich brachte eine davon zu Ernesto. Er hielt sie ihm entgegen, so dass Ernesto die Bauchbinde lesen konnte: ›Sweet Memories‹
Ernesto nahm sie entgegen und blickte für einen Moment verwirrt.
»Rauche sie«, sagte der Alte. »Sie wird dir schmecken.« Er reichte ihm einen Zigarrenabschneider.
Unschlüssig blickte Ernesto auf den gerollten Tabak. Schließlich erkannte er, dass der Mann ein Nein nicht akzeptierte, und köpfte die Zigarre.
Bevor der Alte ihm die Zigarre entzündete, fragte er: »Was willst du über sie wissen?«
Ernesto stutzte. Schlussendlich seufzte er. »Ich möchte wissen, ob sie hier glücklich war.«
Der Mann lächelte.
Ernesto sog den Rauch in seinen Mund. Er schmeckte das komplexe Aromenspiel der Würze, die sich zum süßlichen Deckblatt mischte, und ganz automatisch breitete sich in ihm eine tiefe Entspannung aus. Kurz schloss er die Augen und ließ den Rauch zwischen seinen Lippen entweichen.
Als er die Augen öffnete, fand er sich plötzlich in dichten Rauchschwaden wieder. Sie kitzelten in seiner Nase, verströmten aber ein fast heimeliges Gefühl.
»Was …«, begann er verwirrt.
Da formte sich eine Figur aus dem Nebel. Es war die Silhouette einer stämmigen Frau mit langem, schwarzen Haar. Ihre Gesichtszüge waren undeutlich, doch Ernesto erkannte sie sofort von alten Fotos.
»Mama?«, fragte er leise.
Die Figur stand auf einmal auf einem Schiff aus Rauch. Sie weinte und blickte immer wieder zurück in seine Richtung. Das Schiff landete an einer Rauchinsel. Alsbald ihre Füße den Boden betraten, warf sich seine Mutter zu Boden und küsste die Erde. Sie erhob sich, und als wäre sie eine Blume nach einem Wildfeuer, streifte sie den dunklen Dunst ab und tanzte als weiße Wolke vor Ernesto. Eine zweite Wolke gesellte sich dazu und die beiden verfielen in einen leidenschaftlichen Tango. Sie vereinten sich und eine dritte Wolke ging aus ihnen hervor, genauso herrlich wie seine Mutter. Sie wuchs, bis sie alle drei gemeinsam tanzten. Dann löste sich seine Mutter von den anderen, machte ein paar Schritte zurück und löste sich in hundert kleine Schwaden auf. Zurück blieben die beiden anderen Rauchfiguren, bis auch diese sich langsam in Luft auflösten.
Ernesto blinzelte und merkte, dass seine Augen feucht waren und seine Nase lief. Er rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und schniefte. Der Rauch hatte sich inzwischen verzogen und er wandte sich an den Alten. Doch der war nicht da. Auch der Zigarrenladen war verschwunden. Ernesto sass stattdessen vor seinem Hotel an der prallen Sonne auf der Straße.
»Ernesto!«, hörte er eine Stimme rufen.
Auf einmal kniete Daniel vor ihm und legte ihm besorgt eine Hand auf die Stirn.
»Meine Güte, wie lange sitzt du schon hier? Du bist feuerrot!«
»Was?«, murmelte Ernesto und merkte, wie ausgetrocknet er sich anfühlte. Was war passiert? Hatte er nicht im Laden getrunken? Im Schatten?
Er versuchte, sich zu erinnern. War er womöglich doch der Straße gefolgt und hatte einen Hitzeschlag erlitten und halluziniert?
Oder …? Auf einmal wusste Ernesto ganz genau, weshalb er nach Havanna gekommen war.
»Wohin willst du?«, fragte Daniel als er ruckartig aufstand.
»Aufs Einwohneramt«, sagte er lachend. »Ich suche meine Halbschwester!«