Sie schwitzt bereits, dabei sind erst 15 Treppenstufen erklommen, es folgen weitere 30 Tritte. Caroline ist es leid, jeden Monat ein Kilo mehr auf die Waage zu bringen und das alles nur wegen dieser blöden Esserei und all dem süssen Zeug.

Sie macht eine Verschnaufpause und dabei gehen ihr so manche Gedanken durch den Kopf. Wie hat sie vor fünf Jahren ausgesehen? Schlank, naja, so ganz schlank war sie eigentlich nie, aber gut proportioniert und die paar Kilos, die sie zu viel hatte, waren sehr gut verteilt. Sie hatte keine Mühe, modische Kleidungsstücke zu finden, ja, sie kleidete sich sehr gerne nach der neusten Mode, auch ihre Haarschnitte waren hipp, also sind es eigentlich immer noch, nur merkt das niemand in ihrem Umfeld.

Sie nimmt das nächste Stockwerk in Angriff, ist doch klar, ihre Kollegen überholen sie leichten Fusses und mustern sie mitleidig. Vor der Arbeit kurz ein Abstecher in die Toilette, sie macht sich für den Tag frisch und will nicht auch noch wegen fehlender Hygiene auffallen.

Caroline hat eine Kaderposition in einem internationalen Unternehmen, welches sich auf Praxiseinrichtungen mit modernsten und stylischen Materialien spezialisiert hat. Sie spricht mehrere Sprachen fliessend und ihr Ingenieursstudium mit Masterabschluss hat sie seit ein paar Jahren auch im Sack. Sie ist die klassische fleissige Mitarbeiterin, die sich aus eigener Kraft durch ihr hervorragendes Fachwissen und einwandfreie Arbeitsleistung hochgearbeitet hat. Nun droht am Horizont aber Ungemach, sie soll aufgrund ihrer Körperfülle in den Hintergrund versetzt werden und ihr Team verlieren. An ihre Stelle gehöre eine normalgewichtige Person, meinen einige Kunden. So eine Frechheit, Ausgrenzung ist das, Mobbing. Und Sie kann es drehen und wenden wie sie will, sie kennt die Problematik und ihre Kunden sind noble Schönheitspraxen, Lifestyle-Oasen, Kurkliniken und so und da sollte die technische Beraterin nicht nur gute Vorschläge bringen, sondern auch die richtigen Masse haben. Um den Verlust des Teams wäre es nicht so schade, die vier Untergebenen haben ihr in den letzten Monaten tüchtig zugesetzt, vor allem die vor einem Jahr eingetretene Sachbearbeiterin Susanne. Diese hat die anderen drei gegen sie aufgehetzt und sie kritisiert sie ständig und bei gemeinsamen Mahlzeiten kommen Sprüche wie: ‘Nimm doch um Himmels Willen kein Dessert; die Portion hättest du auch kleiner haben können usw.’ Dabei ist auch Susanne leicht übergewichtig, nur will sie das in ihren knallengen Jeans nicht wahrhaben. Naja, die Kunden sehen sie auch nicht.

Caroline ist zwischenzeitlich am Arbeitsplatz und hat ihren Rechner hochgefahren. Es sind fünf Kundenanfragen aus Fernost im Briefkasten, eine aus Südamerika und eine aus Frankreich. Den Franzosen wird sie als Ersten bearbeiten, dieser ist sehr wichtig und ein sehr guter Kunde, die anderen kommen der Reihe nach. Was ist denn da sonst noch? Ach, ihre Studienkollegin Franziska will sie einladen. Seitdem diese wieder Single ist, meldet sie sich häufig, das passt Caroline gut, auch sie hat genügend freie Zeit, seit sich Frank verabschiedet hat.

Frank? Ist seit einem guten Jahr verheiratet, seine Frau schwanger. Wie die Zeit doch vergeht. Sie hat Frank mit 25 kennen- und lieben gelernt. Sie waren beide sportlich unterwegs und jedes Wochenende mindestens eine Aktivität angesagt. Von Segeln auf dem grossen See über Tauchkurse, Klettern in der nahen Schlucht, Fahrradtouren von zig Kilometern, Schneeschuhwandern über Stock und Stein, Bergtouren… Definitiv, langweilig war es mit Frank nicht. Als sie gemerkt hat, dass er neben ihr noch mit anderen Frauen ausging, hat sie Heisshunger auf Süsses und überhaupt Desserts bekommen – so kontraproduktiv. Sie wusste es, konnte aber nicht dagegen angehen und von einem Besuch bei einem Seelenklempner wollte sie nichts wissen, dann lieber alleine sein. Sie weiss den Zeitpunkt, in welchem er sich definitiv verdünnisiert hat nicht mehr, aber ganz genau, wieviel sie damals wog: 86kg. Heute sind es 104kg, das geht so nicht weiter und sie kann sich bald schon nicht mehr selber achten.

Sie konzentriert sich auf die Arbeit und lässt das Mittagessen aus, zwei Aepfel im nahen Park müssen genügen. Nach Feierabend wird sie sich über Verschiedenes Klarheit schaffen, so ihr fester Vorsatz.

Sie sitzt im bequemen, mittlerweilen etwas engen, Trainingsanzug auf ihrem kleinen Balkon und hat ihren Laptop eingeschaltet. Soll sie die Diät, die sie soeben gelesen hat, genauer studieren oder dem Vorschlag ihres Bekannten Aldo, den sie auf einer Kontaktplattform für Wohlgenährte kennengelernt hat, folgen? Zu zweit geht besser und dieser Aldo ist unterhaltsam und sie kann gut mit ihm lachen. Er ist seit Kindheit adipös, möchte aber auch abspecken. Sie können das mit gegenseitiger Unterstützung doch gemeinsam angehen. Sie wird Aldo diesen Vorschlag unterbreiten.

Gottlob, denkt sie, ist sie so gut in ihrem Job, dass sie mit dem Geschäftsleiter, ihrem Chef, vereinbart hat, innerhalb eines halben Jahres die Schallgrenze von 85kg wieder zu erreichen. Dann darf sie ihre jetzige Arbeit an der Front behalten. Also müsste sie ja nicht unbedingt jetzt schon… – Nein, so geht das nicht, sie nimmt das Telefon zur Hand und ruft Aldo an. Er ist erfreut und schlägt den Besuch bei einer Ernährungsberatung vor. Er hat bereits recherchiert und weiss, dass ein solches Seminar am nächsten Samstag stattfindet. Hoffentlich finden sie da noch Platz, Franziska muss eben warten. Mit der könnte sie am Sonntag einen etwas längeren Spaziergang unternehmen.

Caroline hat strikte Pläne und will diese unbedingt befolgen. Sie hat sich diesen Tages- und Wochenplan an den Kühlschrank gehängt, die Süssigkeiten und Eiscremes sind aus der Wohnung verbannt, die Nachbarskinder hatten Riesenfreude. Sie hat sich mit Aldo ein einfaches Sportprogramm zusammengestellt und sie wollen es gemeinsam steigern. Absagen oder schlechtes Wetter gelten nicht, jeder Tag verpflichtet. Bereits nach zwei Wochen zeigen sich erste Resultate, sie wiegt unter 100kg und Desserts sind nicht mehr omnipräsent. Aldo und sie schaffen eisern an ihrem Projekt, nach drei Monaten sind ihre Sollmasse erreicht, aber beide wollen tiefer runter. Sie haben Spass an kleinen raffiniert dekorierten Portionen und freuen sich vor allem über das gewonnene Wohl- und Selbstwertgefühl. Desserts – kein Thema mehr und es geht wunderbar ohne.

Mariavon Ballmoos, 18.10.2018