»Mach dir keine Sorgen«, sagte Jim und legte den Arm um Lisas Hüfte. »Du hast gelesen, was sie sagten. Es ist das sicherste Schiff der Welt.«

Lisa schmiegte sich an ihren Verlobten und ließ den Blick in die weite schweifen, wo Queenstown langsam am Horizont verschwand.

»Ich weiss«, sagte sie.

Seit drei Monaten war kein Tag vergangen, an dem sie sich dies nicht selber gesagt hatte. Dennoch war der Knoten in ihrem Magen von Woche zu Woche größer geworden. Es spielte keine Rolle, was die Zeitungen sagten. Der Mensch gehörte nicht auf das Wasser. Genauso wenig wie in den Himmel. Jim schmunzelte oft über diese Einstellung und tadelte sie zeitweise dafür, die großen technischen Fortschritte der Menschheit derart zu verteufeln.

Helles Lachen schallte von den oberen Decks zu ihnen hinunter, doch alles, was Lisa erkennen konnte, war ein Champagnerglas in zierlichen, behandschuhten Fingern und die Schleppe eines Hutes, welche über die Reling flatterte. Lisa verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln. Noch war sie sich selber nicht schlüssig darüber, ob sie die erste Klasse beneiden oder bemitleiden sollte. Warum in aller Welt tat man sich so eine Reise freiwillig an? Natürlich musste die erste Klasse überladen sein von Luxus und Prunk, aber fanden diese Leute dies nicht auch in den Restaurants in London? Warum ans andere Ende der Welt reisen über den weiten, offenen Ozean?

Die einzige Erklärung, die Lisa kannte, war Prestige, welcher so viele der wohlhabenden Leute zu unterliegen schienen. Wer etwas auf sich hielt, musste diese Reise unternehmen, hatte sie so oft auf den Straßen gehört.

Was für ein Schicksal. Da hatten diese Menschen alles Geld der Welt und das einzige, was sie nicht tun konnten, war es zu Hause zu bleiben.

Jim, sie und den anderen der dritten Klasse ging es zumeist nicht anders, wenn auch aus ungleichen Gründen. Für sie beide war es die einzige Möglichkeit, zusammenbleiben zu können. Zu heiraten. Ein neues Leben zu beginnen.

Ein Lächeln stahl sich auf Lisas Lippen. Das war das einzige, was sie schlussendlich wirklich dazu bewogen hatte, auf Jims Idee einzusteigen. Das Geld für ein Ticket hatte er über Monate mühsam zusammengetragen. Erst vor einigen Wochen war klar geworden, dass sie sich die Überfahrt auch wirklich leisten konnten.

»Lass uns reingehen«, sagte Jim, als der Wind zunahm.

 

Sie teilten sich die Kabine mit acht weiteren Passagieren. Zu Beginn war dies kein Problem gewesen für Lisa, die immerhin mit sechs Geschwistern aufgewachsen war. Doch nach einer Woche hatte sie den Gestank nach Alkohol und Urin nicht weiter ausgehalten. Des Tags trug sie mehrere Schichten Kleidung und verbrachte die Zeit unter freiem Himmel an Deck. Des Nachts stand sie mehrere Male auf, um ihren Kopf in der frischen Luft zu klären. So vergingen weitere Tage, in denen sie innerlich nicht zur Ruhe kam. Jim hatte es aufgegeben, ihr gut zuzureden und angefangen, sich des Abends mit den anderen Passagieren der Kabine zu betrinken.

Lisa betrachtete die Sterne, während sie gleichmäßig durch die Nase ein und ausatmete. Dann lehnte sie gegen die Reling und sah dem schwarzen Wasser zu, wie es vom Bug des Schiffes zerteilt wurde. Am Anfang hatte sie noch Dinge wie Schwemmholz oder Algenteppiche beobachten könnten, inzwischen war da jedoch nur noch nacktes Wasser. Bis jetzt.

Lisa legte den Kopf etwas schräg und kniff die Augen zusammen, als sie sah, wie ein Gegenstand entlang des Schiffsrumpfs auf sie zugetragen wurde. Selbst, als er direkt unter ihr war, gelang es ihr nicht, zu erkennen, worum es sich handelte. Sie stellte einen Fuß auf das unterste Geländer und beugte sich über die Reling. Es handelte sich um einen schwimmenden Eisklumpen. Sie schnaubte kurz aus. Es lag also nicht an ihr, dass sie das Gefühl hatte, dass es Tag um Tag kälter wurde.

Auf einmal erfüllte ein Krachen die Luft und ein Beben fuhr durch den Schiffsrumpf. Lisa suchte Halt an der Reling, doch ihre Hände fassten ins Leere. Ihr Fuß rutschte von dem Geländer und sie kippte vorüber. Einige Bruchteile einer Sekunde schwebte sie bäuchlings auf der Reling, bevor eine weitere Erschütterung sie darüber gleiten ließ.

Der Fall dauerte gerade mal so lange, dass sie realistierte, was geschah, aber zu kurz, als dass sie hätte Luft holen können, um aufzuschreien.

Sie schlug auf der Oberfläche des Wassers auf, als wäre es Beton und stechender Schmerz fuhr durch ihre Arme und Beine. Einige Sekunden vergingen, in denen sie sich nicht rühren konnte und spürte, wie das Wasser sie niederdrückte. Dann verteilte sich der Schmerz und wurde zu tausend kleinen Nadeln, die sich in ihre Haut fraßen. Lisa bewegte die Arme, wusste jedoch nicht, ob sie sich in Richtung Oberfläche oder weiter in die Tiefe bewegte. Alles um sie herum war schwarz und sehr bald spürte sie ihren eigenen Körper nicht mehr.

Sie gab sie es auf und ließ sich regungslos dahintragen. Schwerelos, allein in der Weite des eisigen Ozeans.