Nadine mochte es, Menschen zu beobachten.

Seit ihrem Tod war es die einzige Beschäftigung, die jene nie endenden Gedanken in ihrem Kopf – wenn auch nur für einen kurzen Moment – vertreiben konnte und sie alles um sich herum vergessen liess. Sie mochte es, sich in ein Café an einer Strassenecke zu setzen und den unzähligen Stimmen und Klängen zu lauschen: Ein Gespräch zwischen zwei Verliebten, leise Musik, die aus den Kopfhörern einer vorbei rennenden Joggerin drang, das Dröhnen der Milchschaummaschine. Es beruhigte sie. Fast wie eine Art Meditation. Man hörte so viel mehr, wenn man tatsächlich gewillt war, zuzuhören.

Nadine hatte nie wirklich zugehört, als sie noch am Leben gewesen war. Das war eines der vielen Dinge, die sie bereute. Es war beinahe ironisch, fand sie, wie sie erst hatte sterben müssen, um zu begreifen, was sie eigentlich im Leben gewollt hatte.

Hatte sie gut gelebt? Vielleicht. Wahrscheinlich. Sie hatte immer gute Noten nach Hause gebracht, sich kaum je mit ihren Eltern gestritten, keinen Alkohol getrunken, nicht geraucht. Sie war immer die gute Tochter gewesen. Das völlige Gegenteil ihres Bruders, der stets aufgefallen war, stets Lärm gemacht hatte, sich nie darum gekümmert hatte, was andere von ihm denken mochten. Er hatte alles ausprobiert: Motorradfahren, Marihuana, Fallschirmspringen. Nadine war immer nur am Rand gewesen und hatte ihm zugesehen. »Dein Bruder wirft sein Leben weg«, hatten ihre Eltern oft gesagt. Nun hatte sie das Gefühl, dass er der einzige gewesen war, der es wirklich gelebt hatte.

Die Geräusche verstummten langsam und verschwanden in der Stille, die den Tod umgab. Nadines Gedanken begannen zu wandern. Ohne einen Körper gab es nichts mehr, das sie in Schach gehalten hätte. Sie waren frei, grenzenlos. Flogen zu Menschen und Orten, an denen sie seit Jahren nicht mehr gewesen waren; und Nadine folgte ihnen widerspruchslos. Oft trugen sie sie weit weg von der Realität, weiter noch, als sie je für möglich gehalten hätte. Und manchmal trugen sie sie auch dorthin, wo sie nie wieder hätte zurückkehren wollen.

Wie sie gestorben war? Ereignislos. Sie hatte nicht um ihr Leben kämpfen müssen. Sie war nicht in einen Autounfall verwickelt gewesen oder hatte wochenlang auf der Intensivstation im Koma gelegen. Kein Krebs. Keine Krankheit. Nur ein Schneebrett, das sich gelöst und sie in ewige Dunkelheit gewickelt hatte. Nur eine Entscheidung, die sie zur falschen Zeit an den falschen Ort gebracht hatte. Und Kälte.

Nichts als Kälte.

Es war das einzige Gefühl, das sie verspürte, wenn sie an ihren Tod dachte. Da war nichts gewesen ausser Schwärze und Kälte und dieser seltsame Sog, der sie in eine andere Welt gerissen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie lange sie in der Finsternis gewesen war. Einige Stunden? Einige Monate? Als sie zu sich gekommen war, hatte sie sich plötzlich in ihrem alten Kinderzimmer wiedergefunden: Körperlos und stumm. Ihr neues Dasein folgte seinen ganz eigenen Regeln. Nadine konnte die Menschen um sich herum sehen und hören, aber sie selbst konnten sie nicht erkennen und es gab keine Möglichkeit, irgendetwas daran zu ändern. Für alle Lebenden hatte sie in diesem Moment für immer aufgehört zu existieren.

Ihre Gedanken kehrten allmählich zurück; und mit ihnen auch die Geräusche. Als sich Nadine wieder im Café am Strassenrand wiederfand, bemerkte sie, dass sich die Tische um sie herum geleert hatten. Dort, wo sie gewesen war, hatte sich eine feine Schicht aus Eis gebildet, die sich über die Stühle bis auf den Boden erstreckte. Sie fluchte leise. Das passierte immer, wenn sie nicht aufpasste.

Einige Gäste beobachteten das seltsame Phänomen mit offenen Mündern. Andere zückten sofort ihre Handys und schossen Fotos. Und wieder andere erhoben sich von ihren Stühlen, um sich bei einer Kellnerin zu beschweren. Fast hätte Nadine begonnen zu lachen. Sie konnte weder gesehen noch gehört werden, aber trotzdem zog sie in diesem Moment mehr Aufmerksamkeit auf sich, als sie in den letzten achtzehn Jahren ihres Lebens je gekonnt hätte.

Sie entfernte sich langsam von den Tischen. Fast schon wäre sie wieder mit ihren Gedanken an einen anderen Ort gereist, als sie auf einmal inne hielt. Sie wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas hielt sie zurück. Ein Gefühl. Es dauerte einen Moment, bis sie es wieder erkannte.

Es war Wärme.

Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein Junge; dunkle Haare, blaue Augen, kaum älter als sie selbst. Er lächelte.

Er lächelte sie an.

Nadine erstarrte. Sie sah den Jungen an. Ihre Blicke trafen sich. Es gab keinen Zweifel.

Sie begann zu sprechen, die Worte zäh und hart aus ihrem Mund nach all den Monaten des Schweigens.

»Kannst du mich sehen?«