Ich bin der Neue im Lager, natürlich trägt man mir als allererstes die umständlichen Aufgaben auf. Wie befinden uns im siebten Monat einer Belagerung, von der unsere Strategen vorhergesagt haben, dass sie nach drei Monden zu Ende sein würde. Nach wie vor wissen wir nicht, wie der Feind seine Truppen innerhalb der Mauern einsatzfähig halten kann. Gemäß unseren Berechnungen müssten ihre Vorräte vor langer Zeit zu Ende gegangen sein. Trotzdem harren sie aus.

Ich bin für meinen ersten Einsatz hier, habe gerade die Grundausbildung zum Soldaten abgeschlossen und hätte nicht erwartet, dass es mich wirklich braucht. Aber hier bin ich und schlage mich durch die Wälder mit einem frischen Pack Wochenrationen.

Ich glaube noch immer, dass man mich veräppeln will und dieser Verrückte, von dem sie erzählen, in Wahrheit gar nicht existiert.

Der Gurt meiner Umhängetasche scheuert auf meiner Schulter und die feinen Dornen des Gestrüpps kratzen an meinen nackten Beinen. Ich kann immerhin verstehen, warum sie einen Neuen schicken und nicht selber froh sind, dem Alltagstrott im Lager für einen Tag zu entgehen.

Nach mehreren Stunden erreiche ich die Anhöhe und tatsächlich erkenne ich die Spuren eines Lagers. Aber kein Mensch ist hier.

Ich deponiere die schwere Umhängetasche neben der Feuerstelle und überlege mir, ob damit mein Auftrag erfüllt sei. Ich gestehe, dass ich neugierig bin. Was für ein Mensch führt seit Monaten fernab der zentralen Lager ein Einsiedlerleben und wird dabei komplett von unserem Kommandanten unterstützt?

»He, Bursche. Willst du lange da rumstehen?«, erschallt es und ich fahre herum.

Meine Hand liegt an meinem Gladius, ziehe es aber nicht. Ich kann nicht erkennen, woher die Stimme kam.

»Hier oben.«

Ich lege meinen Kopf in den Nacken und blinzle gegen die Sonne an.

Dort oben in den Wipfeln der Bäume hat jemand eine Plattform aus Holz gebaut und dieser jemand blickt interessiert auf mich herab.

»Hallo?«, sagte ich, da mir nichts Besseres einfällt.

»Du bist neu, was?«

Von der Plattform fällt eine behelfsmäßige Strickleiter.

Ich warte, bis er Anstalten macht, zu mir hinunterzukommen, aber nichts dergleichen geschieht. Als sein Kopf verschwindet, wäge ich einen Moment ab, dann greife ich nach der Leiter.

Oben angekommen runzel ich erstmals die Stirn. Vor hier aus hat man einen perfekten Blick auf die belagerte Stadt. Natürlich gibt es mehrere solcher Außenposten, doch dieser hier ist anders, da er keinen Mehrwert bringt. Man blickt nur an die nackte Wand der Verteidigungsanlage, die dem unüberwindbaren Bergmassiv zugewandt ist.

Was hier Interessantes zu sehen sein soll, ist mir ein Rätsel. Würden sie hier ausfallen, müssten sie ihre ganze Stadt umrunden und bis dahin wären sie längst im Blickfeld der anderen Posten.

Trotzdem kniet der Wachmann am Rande der Plattform, Pfeil und Bogen in Bereitschaft und späht hochkonzentriert an das Gemäuer.

»Was bist du?«, fragt er. »Mutig, dass du dich zu dem Irren hoch wagst oder faul, weil du so nicht zurück ins Lager willst?«

»Neugierig«, sage ich und nicke in Richtung der Mauer. »Was gibt es da zu sehen?«

»So Einiges. Dinge, die von allen anderen Posten aus nicht gesehen werden können.«

Ich knie mich neben ihn.

»Und was soll das sein?«

Er streckt seinen Arm aus und ich folge dem Fingerzeig.

»Siehst du die Öffnung dort?«

Ich kneife die Augen zusammen und glaube tatsächlich zu sehen, was er meint.

»Du kommst zur richtigen Zeit«, sagt er langgezogen und greift nach seinem Bogen.

Irgendwie glaube ich, Bewegung an besagter Öffnung auszumachen.

»Oh«, entfährt es mir, als ein Vogel sich in die Lüfte erhebt.

»Scht!«

Ich verstumme und beobachte, wie der Mann den Flug des Vogels verfolgt. Er hat ihn bestens im Blick, wartet aber ab. Der Vogel verschwindet für meine Augen zwischen den Baumwipfeln, aber er scheint ihn weiterhin zu sehen.

Dann spannt er den Bogen und lässt die Sehne surren.

Ganz nah stieben Federn in die Luft und etwas fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Der Mann lächelt grimmig und zieht eine Kiste an sich heran. Daraus holt er mehrere Papyrusrollen, die er vor sich ausbreitet. Sie sind alle vollgekritzelt mit Symbolen und Wortfragmenten, die ich nicht entziffern kann.

»Was ist das?«, fragte ich und lege den Kopf schräg, um besser lesen zu können.

Er legt seinen Finger an die Lippen, als denke er nach.

»Seit Monaten lassen sie diese Vögel fliegen. Immer dieselbe Art von Tauben. Immer aus derselben Öffnung in der Mauer. Und immer fliegen sie den exakt gleichen Weg.«

Mir dämmert, warum er den Vogel so zielgerichtet hat erlegen können.

»Mach dich nützlich und hol mir diesen Vogel, ja?«

Mir ist klar, dass aus dem komischen Kauz nichts herauszuholen ist, also leiste ich dem Befehl Folge. Auf dem Grund angekommen suche ich eine Weile, dann finde ich die perfekt durchbohrte Taube.

»Na?«, rief er hinunter.

Ich pfeife überrascht auf.

»Da hängt etwas an ihrem Bein.«

»Öffne es«, ruft er ungeduldig.

Das Etwas ist ein aufgerolltes Lederband und als ich es entrolle, erkenne ich einige der Symbole wieder, die auf den Pergamenten zu sehen sind.

»Was steht darauf?«, fragt er.

»Eine Drei, dann die Buchstaben O und L, ein Pfeil und zum Schluss so etwas wie ein Wasserwirbel.«

Der Kopf verschwindet und lässt mich ratlos zurück.

Irgendwann stößt er einen hellen Schrei aus, der mich zusammenzucken lässt.

»Ist alles in Ordnung?«

»In Ordnung?« Sein strahlendes Gesicht erscheint erneut. »Besser!«

Er beginnt die Leiter hinunterzuklettern.

Ich gehe ihm entgegen, doch bevor ich etwas sagen kann, fasst er mich an den Schultern und schüttelt mich.

»Ich hab den Code geknackt!«

Ich schiebe ihn weg und runzle die Stirn. Offenbar ist er wirklich verrückt.

»Schau mich nicht so an, Junge«, sagt er streng. »Du warst gerade bei einem historischen Moment dabei.«

»Was soll das heißen?«

Er wedelt mit einer der Pergamentrollen vor meinem Gesicht herum.

»Der Code, Junge. Der Code, über den sie mit ihren Verbündeten kommunizieren. Die ihnen ganz offensichtlich frische Ressourcen durch das Tunnelsystem im Berg heranschaffen!«

Ich blicke ihn an, starre auf die Rolle und wieder zu ihm.

Seine Augen strahlen.

»Gib unserem Kommandanten zwei Wochen, dann hat die Belagerung ein Ende.«