Der Stein in ihrer Hosentasche rieb mit jedem Sprung an ihrem Oberschenkel, aber der Druck vergrößerte das Grinsen auf ihrem Gesicht nur noch weiter, als sie praktisch durch das Quartier rannte. An einer Ecke erkannte sie ihren Nachbarn, der gerade mit dem Hund Gassi ging und sie winkte ihm zu. Der alte Gentleman rümpfte nur die Nase und sie spürte seine Augen, die in ihren Rücken brannten, als sie ihn passierte.

Es war ihr egal. Heute war ihr alles egal und es gab nichts, was ihre gute Laune zunichtemachen würde.

»Hallo Schatz«, rief sie, als sie geradewegs durch die Tür fiel.

Sie nestelte ihre Jacke auf und warf sie in eine Ecke. Dann öffnete sie den Reißverschluss an ihrer Hosentasche und umfasste den kalten Stein.

»Da bist du ja.« Ihr Mann lehnte am Durchgang zu ihrem Wohnzimmer und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Bist so durchs ganze Quartier spaziert?«

Alibimäßig klopfte sie den Dreck und Staub von ihren Kleidern, zog gleichzeitig den Stein aus ihrer Tasche.

»Schau mal«, sagte sie aufgeregt und streckte ihm den kleinen Kristall hin. »Denn hab ich heute gefunden. Sie sagten, ich dürfe ihn behalten.«

»Sie?«, fragte ihr Mann und legte die Stirn in Falten. »In dem Fall warst du wieder mit deinen Kumpels unterwegs? Du weißt, was ich davon halte.«

Die biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Nein. Heute würde niemand ihre Laune verderben. Sie legte den Stein auf die Hutablage und machte sich daran, ihre Stiefel auszuziehen.

»Ich weiß«, sagte sie dann. »Aber es sind meine Freunde und sie waren für mich da, als es mir schlecht ging.«

Sie konnte sein Augenrollen förmlich spüren.

»Ich sage ja nicht, dass du sie nicht sehen darfst«, sagte er gönnerisch. »Aber es wäre mir lieber, wenn die Nachbarn das nicht mitkriegen.«

Sie wandte sich zu ihm um.

»Und wenn du« Er machte eine vage Geste in ihre Richtung. »So durch die Gegend läufts, machst du kein grosses Geheimnis daraus, mit dem du unterwegs warst.«

Sie atmete einmal tief durch und nahm den Stein von der Ablage. Die Kühle seiner Oberfläche beruhigte sie ein bisschen.

»Ich finde nicht, dass du dich für meine Freunde zu schämen brauchst«, sagte sie leise.

Er warf die Hände in die Luft. »Das tu ich gar nicht. Immer drehst du mir die Worte im Mund um.«

Sie blickte ihn zweifelnd an. »Du denkst, dass deine Reputation schadet, wenn sich deine Frau mit den falschen Leuten abgibt. Wenn sie nicht jeden Tag brav in ihrem Kleidchen zu Hause sitzt und so tut, als wäre sie glücklich mit ihrer Situation. Allein. Abgeschnitten von der Welt. Doch« Sie stellte den Kristall wieder auf die Ablage, so hart, dass er definitiv Löcher im Holz hinterlassen musste. »Du schämst dich für meine Freunde. Du schämst dich sogar für mich.«

»Ach, jetzt beruhige dich mal wieder«, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich hätte dich nicht geheiratet, wenn ich mich schämen würde für dich, oder?«

Er lächelte und streifte ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sofort zog er die Hand zurück und starrte angeekelt auf die Spinnweben, sie an deinen Fingern klebten.

Aber sie dachte nicht daran, sich zu beruhigen. »Dir ist es egal, dass ich mich den ganzen Tag über nur langweile und darauf warte, dass du nach Hause kommst. Du glaubst, passende Hobbys für mich sind Stricken und Apfelkuchen zu backen, während du dich irgendwo rumtreibst und das Vermögen deines Vaters verprasst.«

Sein Gesicht verfärbte sich rot und seine Nasenlöcher blähten sich.

»Das reicht«, rief er. »Ich verbiete dir, weiterhin in irgendwelchen Höhlen herumzuklettern. Und von deinen Freunden kannst du dich ebenfalls verabschieden. Von jetzt an …«

Aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie drängte an ihm vorbei und ging auf geradem weg in ihr Ankleidezimmer. Auf dem Weg verteilte sie Steinstaub im Gang und es war ihr absolut egal. Sie zerrte einen Koffer hervor und begann ihre Kleidung hineinzuwerfen. Sie packte nur, was sie gerne trug und was praktisch war. Alles schönen Kleider und Anzüge ließ sie hängen. Der Koffer war nicht einmal halbvoll, als sie damit fertig war. Sie stapfte durch alle anderen Zimmer und erkannte erst da, dass sie eigentlich gar nichts besaß. Nichts von all den Dingen in ihrem Haus bedeutete ihr wirklich etwas. Als sie zurück ins Ankleidezimmer ging, lehnte ihr Mann lässig am Türrahmen.

Er schmunzelte. »Wirklich? Das ist so typisch. Soll das deine große Geste sein, um mir Angst zu machen? Und was jetzt?«

Sie zwängte sich an ihm vorbei und schloss den Koffer.

»Wo willst du hin?«, fragte er erneut. »Zurück in die WG mit den sieben Kerlen? Du kannst dort ja Nichtmal die Miete bezahlen.«

Sie ignorierte ihn und trug den Koffer an ihm vorbei Richtung Ausgang, wo sie wieder in die Stiefel stieg.

»Sei vernünftig.« Nun klang seine Stimme gepresster und das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Du kannst hier keine Szene machen. Was denken die Leute, wenn sie dich mit dem Koffer auf der Straße sehen?«

Sie packte den Kristall von der Ablage und streckte ihn ihm entgegen. »Das wird zumindest die erste Miete übernehmen.«

Wieder wurde sein Gesicht feuerrot. »Ich verbiete dir, dieses Haus zu verlassen!«

»Ach, halt die Klappe«, sagte sie und öffnete die Tür.

»Schneewittchen, komm sofort zurück!«, rief er ihr nach, aber sie hatte die Tür bereits hinter sich zugezogen und hörte es nur noch gedämpft.

Sie hielt kurz inne, atmete die kühle Luft ein und straffte die Schultern.

Jawohl.

Es war höchste Zeit für einen Neuanfang.