Ich erwachte durch Schreie.

Müde blinzelte ich. Es konnte kaum eine Stunde vergangen sein, seit ich mich zum Schlafen hingelegt hatte, und ich fühlte mich, als hätte ich seit Tagen kein Auge mehr zugetan. Die Welt vor meinen Augen war immer noch ein wenig verschwommen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte und erkannte, wo ich eigentlich war. Von irgendwoher erklang ein leises Knistern. Im Zimmer roch es nach Rauch.

»Verdammt…«, murmelte ich, die Augen immer noch nicht ganz offen. »Kiro, hast du vergessen, die Kerzen zu löschen?«
Und dann begriff ich.

Wie vom Blitz getroffen sass ich auf einmal kerzengerade im Bett und mein Herz pochte laut in meiner Brust. Die Vorhänge und das gesamte Ankleidezimmer standen in Flammen und hüllten den Raum in ein dumpfes, oranges Licht.

»Wach auf!«, schrie ich Kiro an und schüttelte ihn. »Wach auf, du Idiot!« Verwirrt öffnete er die Augen. Sogleich begann er zu husten. Ich schüttelte ihn erneut. »Wir müssen weg von hier! Das Schloss brennt!«

Endlich kam er hoch. Der verschlafene Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich in pures Entsetzen, als er sah, wie das Feuer an den Möbeln und den Wänden leckte. Ich schlug die Decke zur Seite, schnappte mir den Umhang, den ich beim Schminktisch hatte liegen lassen und warf ihn mir über. »Komm schon!«, rief ich Kiro zu. »Wir müssen raus hier!«

Der Prinz von Alkalai schlüpfte in seine Stiefel, warf sich einen Mantel über und folgte mir. Ich zog ihn am Arm hinaus in den Flur. Die Wachen, die vor unseren Gemächern stationiert gewesen waren, waren verschwunden und es hatte sich eine erschreckende Stille über das Schloss gelegt.

Gemeinsam rannten wir durch den Korridor, vorbei an alten Gemälden und staubigen Teppichen, und dann die steile Wendeltreppe hinunter ins zweite Stockwerk. An deren Ende blieb ich stehen. Der Rauch hier unten war dicker und der Geruch von Verbranntem beinahe unerträglich. Als ich die Tür aufstiess, zog sich alles in mir zusammen. Der Anblick, der sich mir bot, kam einem Bild aus einem bizarren Albtraum gleich: Der ganze Flur war überfüllt mit toten Körpern, die in blutigen Lachen am Boden lagen, zum Teil verbrannt, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Ich hörte, wie sich Kiro hinter mir übergab.

»Verflucht«, stiess ich hervor. Das hier war mehr als nur ein Feuer, soviel stand fest. Im Kopf ging ich alle Möglichkeiten durch, die mir einfielen. Eine Revolution? Ein Aufstand? Ein Anschlag? Die Kriegserklärung eines andern Königreichs?
Rasch wandte ich meinen Blick von den Leichen ab und zerrte Kiro weiter. »Komm schon«, zischte ich ihm zu, während ich mir in Gedanken immer wieder eintrichterte, ruhig zu bleiben. Der Prinz atmete heftig und war kreideweiss im Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper.

»Jetzt mach schon«, drängte ich. »Wenn wir hier noch lange rumstehen, werden wir den Toten bald Gesellschaft leisten können.«

Kiro sah aus, als müsse er bald wieder erbrechen. »Schau nicht hin«, sagte ich und ging weiter, ohne mich umzudrehen.

Wir rannten die grosse Treppe hinunter in den Säulengang vor dem Ballsaal. Schon von Weitem konnte ich die toten Wächter erkennen. Der Innenhof stand in Flammen und einige der Säulen waren eingestürzt. Von der einstigen Pracht von Schloss Alkalai war nichts mehr übrig.

Mit nackten Füssen und mit nicht mehr als meinem Nachthemd bekleidet, durchquerte ich den Gang durch Pfützen aus Blut und russgetränktem Wasser. Mein ganzer Körper stand unter Spannung. Ich fühlte jeden einzelnen Nerv unter meiner Haut. Noch immer hielt ich Kiro am Handgelenk fest und zerrte ihn schneller vorwärts, als er selbst gehen konnte.

Plötzlich zuckte ich zusammen. Neben mir ertönte ein leises Würgen. Als ich mich umdrehte, konnte ich einen Wächter erkennen, der an eine Säule gelehnt war und keuchend nach Luft schnappte. Blut tropfte aus seinen unzähligen Wunden.

»He… helft mir«, presste er hervor, bevor er einen Schwall schwarzes Blut zu spucken begann.

Rasch kniete ich mich zu ihm hinunter. »Was ist passiert?«, wollte ich wissen.

Der Wächter schüttelte den Kopf. Ich hielt ihn energisch an den Schultern fest. »Sagt es mir!«, fuhr ich ihn an. »Was um alles in der Welt ist hier passiert? Wurdet ihr überfallen?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »N… nein«, gab er zur Antwort. »Da war… Feuer… und dieser… dieser…« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment versagte seine Stimme. Sein Kopf sank auf seine Schulter hinunter und der Ausdruck in seinen Augen wurde starr und leer. Ich fluchte. Vorsichtig fuhr ich mit der Hand über sein Gesicht und schloss seine Lider. Für einen Moment hielt ich inne. Als ich mich erheben wollte, hörte ich den Schrei. Es war kein menschlicher Schrei und gleichzeitig ähnelte er keinem Tier. Er ging durch Mark und Bein, liess die Erde beben, die Bäume erzittern und die Seen vertrocknen. Er war so markant und laut, dass ich das Gefühl hatte, aus den Ohren zu bluten.

Ich drehte mich um. Der Schrei verstummte, aber seine Quelle stand nun direkt vor mir. Es war eine Kreatur, die eigentlich gar nicht mehr hätte existieren dürfen: Ein riesiges, echsenähnliches Wesen mit übergrossen Klauen, silber leuchtenden Schuppen und muskulösen Flügeln auf dem Rücken. Ihren Kopf hatte sie gesenkt, sodass ihre Augen nun genau auf Höhe mit meinem Gesicht waren. Aus den Nüstern quoll schwarzer Rauch. Der mit spitzen Zähnen versehte Mund war blutbefleckt und die Hörner auf der Stirn glänzten bedrohlich.

Ich wusste, dass ich mich hätte fürchten sollen. Aber anstelle von Angst emfpand ich nichts als Ehrfurcht vor diesem mysteriösen Wesen, das vor mir stand. Instinktiv, als wäre er nicht mehr mein eigener, bewegte sich mein Arm nach vorne. Vorsichtig berührte ich den Kopf der Kreatur. Ihre blauen, katzenähnlichen Augen fixierten mich, aber sie wich nicht zurück. Ich spürte die Schuppen unter meiner Haut, die warmen Atemstösse des Wesens. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen; und es gab nur noch uns beide in diesem Moment.

Ich zog meinen Arm langsam wieder zurück. Die Decke über uns war eingebrochen und zeigte den klaren Nachthimmel. Das Wesen streckte seine Flügel aus. Es erhob sich und verschwand, bis es nur noch als silberner Schweif am Horizont zu erkennen war.

Dann wurde es still.