Mit überschlagenen Armen stand Simone an den Türrahmen gelehnt und ließ den Blick schweifen. Sie hatte diesen Termin wochenlang vor sich hergeschoben. Jetzt war es aber keine Faulheit oder Motivationslosigkeit, sondern vielmehr Nostalgie, die sie innehalten ließ. Sie musterte die Einrichtung ihres alten Kinderzimmers.

Einerseits wirkte es leer, weil sie alles Wichtige bereits in ihre neue Wohnung mitgenommen hatte. Ihre erste richtige, eigene Wohnung, keine schmuddelige Studenten-WG, wo es immer nur Pasta mit Tomatensoße gab und aufräumen so viel hieß, wie etwas von einem Stapel auf einen anderen zu bewegen.

Andererseits wiederum entdeckte sie überall Kleinigkeiten aus ihrer Jugendzeit. Dinge, die sie nicht zügeln wollte, aber die das Zimmer doch irgendwie anfüllten.

Das war auch der Grund, warum ihre Eltern sie herzitiert hatten. Sie wollten den Raum anderweitig nutzen und Simones Kinderzeugs musste weg. Aber auch sie hatten es nicht über sich gebracht, einfach alles wegzuwerfen. Also war es an Simone, auszusortieren.

Seufzend trat sie endgültig in das Zimmer und an das erste Regal heran. Sie zog ihre alten Jugendbücher heraus, eines nach dem anderen, blätterte darin und legte sie auf einem von zwei Stapeln ab: Weg damit oder zu erinnerungsträchtig. Auch wenn sie keines davon je wieder lesen würde, sie konnte die Jugendbücher von Werner J. Egli oder Frederica De Cesco nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.

Je länger sie Regale, Schubladen und Gestelle ausräumte, desto mehr fragte sie sich, warum sie das überhaupt vor sich hergeschoben hatte. Die ganze Sache war wie eine Reise in ihre Vergangenheit. Sie fand einiges, das sie zum Lachen brachte, wie romantische Poster von Rockstars und Schauspieler, und anderes, das sie berührte, wie das zerfledderte Plüschtier in Form einer Gämse, welches sie als Kind nie aus den Händen gegeben hatte.

Und es gab Dinge, die sie wehmütig werden ließen. Wie zum Beispiel eine ganze Mappe voll losem Papier mit Bleistiftskizzen. Schrecklichen, beschämende Skizzen. Es war Jahre her, seit sie zum Stift gegriffen hatte.
Etwas regte sich in Simones Brust. Es waren nicht einfach nur erste Gehversuche als Comic-Zeichnerin gewesen. Dahinter stand viel mehr. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie gemeinsam mit einer Freundin ganze Welten erschaffen und bevölkert hatte. Tagelang hatten sie die Köpfe zusammengesteckt, geschrieben und gebastelt.

Sie fuhr mit den Fingern über die Umrisse einer mittelalterlichen Stadt in ihrer Zeichnung und lächelte leise.

Damals hatte sie für Dinge brennen können. So richtig, mit Leidenschaft und Herzblut.

Die Leidenschaft, die ihr in den letzten Jahren ihres Wirtschaftsstudiums abhanden gekommen waren.

Seufzend packte sie die Zeichnung auf den »zu entsorgen«-Stapel.

»Du bist immer noch dran«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Simone schaute auf die Uhr.

»Oh, wow«, stieß sie aus. »Das dauert länger als ich dachte.«

Ihre Mutter lachte. »Du kannst gerne nach dem Essen weitermachen und hier übernachten.«

Simone rümpfte die Nase. Sie hatte nicht geplant, über Nacht hier zu bleiben, aber die Sache dauerte tatsächlich länger als erwartet. Sie würde wohl einen Zahn zulegen müssen.

 

»Was ist das?«

Simone streckte den Kopf aus dem Badezimmer, um zu sehen, was ihr Freund jetzt wieder entdeckt hatte.

»Ah«, sagte sie, während die ihre Haare nach hinten band. »Das ist noch Zeug von zu Hause. Hab ich am Wochenende ausgemistet.«

Ohne zu fragen, öffnete er die Kartonkiste und begann, darin zu wühlen.

»He!«, protestierte Simone und gesellte sich zu ihm.

Sie zog die Kiste zu sich, doch da hatte er mit einem breiten Grinsen schon etwas daraus hervor gezogen.

»Disketten! Wie Old School.«

Sie schnappte ihm die 3.5 Zoll-Diskette aus den Fingern.

»Ich bin Old School«, neckte sie. »Finde dich damit ab, dass du mit einer alten Frau verkehrst.«

Er zog einen Schmollmund. »Ein so großer Unterschied sind diese drei Jahre nun auch wieder nicht.«

»Nein«, sagte sie und drehte die Diskette in ihren Händen, um die Beschriftung zu lesen. »Aber groß genug, dass du offenbar nicht mehr mit Disketten arbeiten musstest.«

»Und was ist da drauf?«

Sie versuchte, die kraklige Handschrift zu entziffern. Als sie das Wort endlich lesen konnte, entfuhr ihr ein überraschter Aufschrei.

»Oh je«, presste sie mit einem Lachen hervor. »Mein Buch!«

»Dein was?« , fragte er und nahm ihr die Diskette wieder ab, um selber zu lesen, was darauf stand.

»›Buch‹ heißt das«, erklärte sie. »Eine sehr treffende Beschreibung. Ich hab ernsthaft mal angefangen, ein Buch zu schreiben.«

Er ließ die Hand sinken und starrte sie an. »Ein Buch? So richtig?«

Sie zuckte mit den Schultern, klappte den Karton zusammen und hob ihn hoch. »Naja, so ein paar Dutzend Seiten, schätz ich mal.«

Sie trug die Kiste in den Raum, der ihr neues Büro gerade entstand.

»Und worum ging es da?«, fragte er.

»Irgendwas in einer Fantasy-Welt. Was weiß ich.«

Das war ein kleines Bisschen gelogen. Auf einen Schlag erinnerte sie sich ganz genau an die Geschichte, die sie damals in ihrer Naivität und Begeisterungsfähigkeit hatte schreiben wollen. An die Figuren, die tragischen Helden und skrupellosen Bösewichte, an die orientalisch angehaute Welt und die große Bedrohung.

Ihr Herz schlug auf einmal sehr schnell, als sie ihm die Diskette erneut abnahm.

»Irgendwie cool. Meine große Bestsellerautorin«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich muss los.«

»Klar«, sagte sie etwas abwesend, während sie weiter auf ihre kindliche Schrift blickte.

Ein aufdringliches Kribbeln fuhr ihr über den Rücken, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und erreichte schlussendlich ihre Finger.

Damals hatte sie sich verlieren können in diesen Geschichten. Heute schaffte sie es nicht einmal mehr, einen Roman zu Ende zu lesen vor lauter schlechtem Gewissen, dass sie nicht am Lernen war.

Erst als die Haustür ging, löste sie sich aus ihrer Starre und setzte sich gleich an den Computer. Eines der wenigen Dinge, die schon fertig aufgebaut war in ihrer Wohnung. Sie browste zu einem online Händler und bestellte sich ein portables Disketten-Laufwerk. Dann öffnete sie eine neue Datei in ihrem Schreibprogramm und starrte für einen Moment auf die jungfräuliche Seite.

Sie lächelte und begann zu tippen:

1. Kapitel