Das Boot schaukelte, als Aylan das Fischernetz mit aller Kraft auswarf. Es breitete sich fast perfekt rund aus, klatschte aufs Wasser und ging mit kleinen Blasen unter.

Aylan blickte ihm einen Moment hinterher, dann setzte er sich ins Boot. Auf dem Wasser spiegelte sich das Licht des Mondes und ein wenig weiter draußen sah Aylan die weißen Schaumkronen der Wellen, die sich am Riff brachen. Er fröstelte. Als er sich die Arme rieb, um die Kälte zu vertreiben, schweiften seine Gedanken ab zum Abend zuvor und zur schönen Fremden, die plötzlich in sein Leben getreten war.


»Macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu dir setze?«

Aylan blickte überrascht von seinem Kräuterbier auf, als eine sanfte Stimme durch den Lärm in der Taverne an sein Ohr drang. Die hübsche Gestalt, die vor ihm stand und fragend eine schön geschwungene Augenbraue gehoben hatte, passte nicht so richtig in die heruntergekommene Hafenschänke.

Sie kam ihm vor wie eine Schiffbrüchige, die ein Sturm von draußen in die stickige Taverne zu ihm getrieben hatte. Ihre fließenden blauen, mit feinen, netzartigen Mustern bestickten Kleider sahen auf den ersten Blick aus, als wären sie durchnässt, aber als sie sich neben Aylan setze, sah er, dass er sich täuschte. Er hatte keine Ahnung, woher sie stammte, denn er hatte so eine Bekleidung noch nie gesehen, und als Fischer und treuer Besucher aller Tavernen im Hafenviertel bekam er einiges zu sehen.

»Mein Name ist Luin«, sagte sie mit wohl klingender Stimme und setzte sich neben ihn, als er nicht widersprach. Warum sollte er auch. Nicht jeden Tag wurde ihm eine solche zarte Schönheit buchstäblich vor die Nase gespült. Ihm fiel der schwache Geruch von Meerwasser und Seetang auf, der sie umgab, und als er für einen kurzen Moment die Augen schloss, glaubte er trotz des Lärms sogar das Rauschen der Wellen und das Blubbern der Blasen unter Wasser hören zu können.

»Aylan«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Sie musterte sie, ergriff sie jedoch nicht, sondern prostete ihm stattdessen zu. Über den Rand ihres Bierkrugs blitzten ihn wasserblaue, glänzende Augen verschmitzt an.

»Und, bist du Fischer?«

»Ja, bin ich. Hier in der Taverne gibt es sowieso fast niemanden, der nicht Fischer ist.«

Sie grinste noch breiter. Ihre Stimme klang verführerisch, als sie ihn fragte: »Was wäre, wenn du – und nur du – heute Nacht den Fang deines Lebens machen würdest?«

Aylan verschluckte sich an seinem Kräuterbier, hustete lautstark und blickte sie aus großen Augen an. Sie sah erst verwirrt drein, dann lachte sie auf. Es war ein helles Lachen, das ihn an kräuselnde Wellen am Strand erinnerte. 

»Ach, Aylan! Nicht das, was du denkst! Ich rede von den Dingen im Meer.«

Aylan schluckte und strich sich mit dem Handrücken über den Mund. »Natürlich. Ich auch.« Er stellte den Krug ab. »Was für Dinge denn?«

Sie beugte sich vor und ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich habe gehört, dass sich seit Kurzem ein Limlug am Riff aufhalten soll.«

»Ein Limlug? Bist du sicher?«

Sie nickte heftig.

Aylan überlegte. Meerdrachen galten als sehr selten und somit auch als unglaublich wertvoll. Ein Limlug wäre ganz bestimmt der Fang seines Lebens.

Aber draußen am Riff war auch es gefährlich. Man erzählte sich Geschichten von seltsamen Geschöpfen aus dem weiten Meer, die sich dort in den Netzen verfingen und manchmal das Boot zum Kentern brachten oder den Fischer vom Boot ins Meer rissen. Dort draußen einen Limlug zu jagen wäre ein grosses Risiko. Aber es wäre der Fang seines Lebens.

Und als wären seine Gedanken vom Gesicht abzulesen gewesen, legte ihm Luin beruhigend die zarte Hand auf seinen Unterarm. Die Berührung war kühl und fühlte sich an wie plätscherndes Wasser.

»Nur Mut. Denk an den Fang deines Lebens.«


Die Wellen schwappten träge um das Boot und holten Aylan aus seinen Gedanken. Die kleine Boje, an der er das Seil mit dem Fischernetz befestigt hatte, war in der Dunkelheit nur als dunkler Fleck auszumachen. Sie tanzte auf der Wasseroberfläche hin und her.

Aylan hatte darüber nachgedacht, ob er Luin fragen sollte, ihn zu begleiten. Aber wenn er wirklich etwas anderem als einem Limlug begegnen sollte, dann war es wohl besser, wenn sie nicht mit im Boot sass.

Er spürte leises Bedauern und schalt sich sogleich einen Narren. Er hatte sie eben erst kennengelernt, er konnte sie noch nicht vermissen. Oder doch?

Die Boje hüpfte plötzlich auf und ab, als etwas am Netz zerrte. Aufgeregt sprang Aylan auf und kämpfte einen Augenblick ums Gleichgewicht. Dann hatte er festen Stand und begann, es einzuholen. Es bewegte sich träge und rang ihm einiges an Kraft ab. Der Limlug, oder was auch immer sich darin verfangen hatte, schien eine beachtliche Größe zu haben.

Das Netz näherte sich der Wasseroberfläche. Das Licht des Mondes war schwach, aber Aylan konnte einen großen, bleichen Umriss neben dem Boot erkennen.

Als er mit den Händen ins Wasser und nach dem Netz griff, spürte er eine Berührung. Ganz leicht nur, aber er zuckte erschrocken zusammen und riss die Hände zurück. Vorsichtig beugte er sich über den Rand des Bootes.

Eine feingliedrige Hand tauchte aus dem Wasser auf und griff nach seiner. Erschrocken prallte Aylan zurück – oder wollte es, denn der Griff lockerte sich nicht, im Gegenteil. Plötzlich stiegen Blasen auf und etwas stieg an die Oberfläche. Kein Limlug. Kein Fisch. 

Sondern ein Mensch. 

Oder etwas, das wie ein Mensch aussah. Mit aufgerissenen Augen starrte Aylan auf die Kiemen an Luins Hals und dann blickte er in die wasserblauen, glänzenden Augen.

»Ich sagte doch, du machst heute Nacht den Fang deines Lebens«, flüsterte Luin mit der wundervollsten Stimme, die Aylan je gehört hatte, und lächelte ihn an. Tiefe Sehnsucht ergriff ihn und ließ ihn alles um sich herum vergessen. Luin war da, und sie war seinetwegen gekommen.

Und so wehrte er sich auch nicht, als sie seine andere Hand ergriff, ihn sanft über den Rand des Bootes und ins weite Meer hinauszog.

Bild über stocksnap.io, von Snufkin