Mark bemerkte die betretenen Blicke seiner Kolleginnen und Kollegen, als er bei der Feuerwehrwache ankam. Am Anfang war er nicht sicher gewesen, woher sie rührten, dann sah er die brennende Kerze vor einem der Spinde und sein Hals wurde auf einen Schlag trocken.

War es also schon ein Jahr her?

Sein Blick ruhte auf dem Namenschild des Spinds – E. Kaiser – bis er Schritte hinter sich hörte.

Er räusperte sich und wandte sich seinem eigenen Spind zu.

»Guten Morgen, Mark«, sagte Oliver.

»Morgen«, murmelte Mark nur in der Angst, dass seine Stimme verräterisch rau klingen könnte.

Oliver stellte sich neben ihn.

»Hör mal, wenn du es heute ruhig angehen lassen …«

»Nein«, sagte Mark schnell.

Vielleicht etwas zu schnell, denn Oliver hob skeptisch die Augenbraue.

»Nein«, wiederholte Mark. »Ist in Ordnung. Es ist ein Tag wie jeder andere.«

Oliver nickte und ließ ihn allein.

Es war ein Tag wie jeder andere. Seit einem Jahr war keiner vergangen, an dem er nicht an Emilia gedacht hatte. Sie war seine Mentorin gewesen, als er bei der Feuerwehrwache angefangen hatte. Sie waren schnell Freunde geworden und Mark und seine Frau hatten Emilia häufig zum Essen eingeladen.

Die zuckende Flamme in Marks Augenwinkel ließ seine Innereien verkrampfen. Als er fertig umgezogen war, befeuchtete er seine Finger und löschte sie.

Kerzen erinnerten ihn an Beerdigungen. Emilia war vielleicht verschwunden, aber das hieß nicht, dass sie tot war.

Gerade als Mark aus der Garderobe trat, hängte Oliver das Meldetelefon in die Angel zurück.

»Notfallmäßig eine Tür aufbrechen. Wer will?«

Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber das kam Mark gelegen. Er hatte keine Lust, heute hier die Zeit totzuschlagen.

»Ich mache das«, sagte er.

Oliver nickte und kam glücklicherweise auch nicht auf die Idee, ihm einen der Neuen aufs Auge zu drücken.

Nach einem kurzen Briefing machte Mark sich auf den Weg ins Luxusviertel der Stadt. Villa an Villa reihten sich dort und er parkierte den Wagen vor einem alt-ehrwürdigen Herrenhaus.

Es war nobel, hatte eine Renovierung aber dringend nötig. Dass hier eine Tür klemmte, überraschte Mark nicht im Geringsten.

Die Stufen zur Veranda knirschten und die Klingel kirrte ohrenbetäubend.

Als die Tür sich öffnete, stand eine hagere Frau vor ihm, die jegliches Klischee einer etwas eigenen, wohlhabenden Dame erfüllte. Elegant gekleidet, perfekte Frisur und penibel manikürten Fingernägeln und auffälliges Make-up.

»Ah, wie freundlich, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte sie mit einer etwas heiseren Stimme.

Sie trat zur Seite und winkte Mark hinein.

»Dafür sind wir da«, sagte Mark und studierte die Einrichtung im weitläufigen Eingangsbereich.

Auch hier, keine Überraschungen, nur alte, staubige Teppiche und Vorhänge, wuchtige Holzmöbel und Lampen, die gelbes, flackerndes Lucht abgaben. In dem Haus hätte man wunderbar den nächsten Adams-Family-Film drehen können.

»Folgen Sie mir bitte«, sagte die Dame und ging erstaunlich leichtfüßig für ihr Alter voran. Sie öffnete eine Tür und betätigte den Lichtschalter.

Mark runzelte die Stirn, als er die Treppe in den Keller sah.

»Es geht um eine klemmende Tür?«

»Ja«, antwortete die Dame. »Eine Schranktüre hier im Keller.«

Mark seufzte. »Wir sind eigentlich für Notfälle da. Bei einer klemmenden Schranktür sollten Sie den Schlosser anrufen.«

»Es ist ein Notfall«, sagte die Dame bestürzt. »Frau Sonnenschein ist verschwunden. Sie hat einen Weg in den Schrank gefunden und kommt nicht mehr heraus, verstehen Sie?«

Mark folgte ihr. Auch wenn das hier kein Fall für die Feuerwehr war, er würde es so oder so nicht über sich bringen, der Dame diesen Gefallen auszuschlagen.

»Frau Sonnenschein ist ihre Katze?«

Die Dame strahlte. »Sie ist ein kleiner Schlingel. Schon so alt, aber trotzdem noch neugierig wie ein kleines Kätzchen.«

Sie deutete auf einen massiven doppeltürigen Holzschrank in der Ecke.

»Ich habe sie noch kratzen gehört und hoffte, sie findet den Weg wieder raus. Wie sie da reingekommen ist, ist mir ein Rätsel. Aber jetzt ist sie ruhig geworden und ich mache mir große Sorgen.«

Mark setzte den Werkzeugkoffer ab und öffnete ihn.

»Der Schrank«, sagte die alte Dame nun etwas weinerlich. »Er ist ein Familienerbstück.«

Mark seufzte und holte den Bund Dietriche hervor. Als er das Schloss musterte, runzelte er die Stirn.

»Ein ziemlich modernes Schloss für so einen alten Schrank«.

»Er wurde kürzlich restauriert«, sagte sie. »Leider habe die Schlüssel verlegt.«

Mark streifte die Stirnlampe über und machte sich an die Arbeit. Das Schloss aufzubrechen wäre ein leichtes, aber es würde auf jeden Fall Schäden hinterlassen. Also musste er hier mit Fingerspitzengefühl rangehen und wenn er ehrlich war, bereitete ihm das auch mehr Spaß.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er alle Pins an der richtigen Position hatte und ein Klicken verriet, dass er den inneren Zylinder drehen konnte.

Quietschend öffnete er den einen Türflügel.

»Oh, wie wunderbar«, sagte die Dame und klatschte in die Hände. »Frau Sonnenschein, mietz, mietz.«

Mark ließ den Schein der Lampe durch das Innere des Schrankes schweifen.

»In der Rückwand befindet sich ein Loch«, ließ er die Dame wissen. »Ich glaube, da ist sogar ein Loch in der Kellerwand.«

»Wie?«, fragte die Dame schockiert »Ist Frau Sonnenschein in meiner Wand? Herrjeh.«

Mark reckte den Hals, aber der Schein der Lampe reichte nicht, um das Loch in der Wand zu erhellen.

»Moment«, sagte er und streckte den Kopf weiter hinein. »Das Loch ist ganz schön tief.«

»Versucht jemand bei mir einzubrechen? Meine Erbstücke!«

Die Panzerknacker vielleicht, dachte Mark. Welcher Einbrecher grub wirklich Löcher in Keller?

»Ich glaube da hinten ist was«, sagte er.

»Frau Sonnenschein?«, fragte die Dame hoffnungsvoll.

Mark kroch weiter in den Schrank hinein, bis er den Kopf ganz durch die Öffnung in der Wand stecken und den Lichtschein ausrichten konnte.

Sein Herz blieb für einen Moment stehen.

Es waren Knochen.

Nicht die Knochen einer Katze.

Er schlug die Hand vor den Mund und verschluckte sich beinahe an dem Schrei, der den Weg aus seiner Kehle suchte.

Die Knochen steckten in einer Uniform, die er nur zu gut kannte.

Und auf dem Namensschild stand E. Kaiser.

Mit einem Knall wurde die Schranktür hinter ihm zugeworfen und Mark hörte noch, wie ein Schlüssel gedreht wurde.