04.05.1923

Viele Jahre ist es her, seit ich diese Reise unternommen habe. Damals bin ich viele Male mit dem Schiff durch den Suez Kanal und das Rote Meer gefahren. Die Reise habe ich weniger anstrengend in Erinnerung, auch wenn sie schneller geworden ist. Dass die Meerbrise heute durch meinen ergrauten Schnurrbart weht, anstelle meines blonden Vollbarts, erklärt diese Tatsache womöglich. Heute bin ich froh, um meinen Gehstock, dessen Elfenbeingriff ich damals noch selber aus Afrika mitgebracht hatte. Früher war er ein ansehnliches Accessoire, heute ein unumgängliches Hilfsmittel.

Meinem Freund Anders ergeht es ähnlich. Auch er ist nicht mehr gut zu Fuß und ich sah ihn des Öfteren straucheln in letzter Zeit. Es wird nicht mehr lange dauern und er wird Hilfe benötigen, um überhaupt auf die Beine zu kommen. Zurzeit schont er seine Kräfte und ruht unter Deck.


Auch mein treuer Diener und Begleiter Fernand verschläft die halbe Reise. Im Gegensatz als bei uns alten Herren, liegt es bei ihm nicht an den fortgeschrittenen Lebensjahren, sondern am Wellengang und seinem empfindlichen Magen.

Mir macht es nichts aus. Ich genieße die Zeit alleine auf Deck. Meine Erwartung – und auch Hoffnung – dass nur wenige Passagiere die Überfahrt so kurz vor der Regenperiode wagen, hat sich erfüllt. Auch ich besuche den Schwarzen Kontinenten zum ersten Mal im Mai und das mit wohlüberlegter Absicht. Mit den Menschen habe ich vor langer Zeit abgeschlossen.


Im Gentlemen’s Club meiner jungen Tagen vermisse man mich herzlichst, ließ man mir ausrichten. Ich jedoch habe genug vom Geschwätz in die Jahre gekommener Herren und den Prahlereien der Jungspunde. Fernands Gesellschaft ist die Einzige, die ich dulde und diese besteht zumeist aus konzentriertem Schachspiel oder erholsamem Schweigen. Und dann gibt es da natürlich noch Anders, dessen Beisein ich stets genieße, wenn auch wir selten verbal kommunizieren.


Ich gestehe, mein Herz bangt, dass diese Reise zu sehr an Anders’ Kräften zehrt und er sie nicht überstehen mag. Doch mein Verstand – wie auch seine tadelnde Miene, wenn immer er meinen besorgten Blick erkennt – verbietet mir solche Gedanken. Es ist Anders’ innigster Wunsch, in seiner Heimat zu sterben, und so lange wir nicht da sind werden ihn seine Kräfte nicht verlassen.

In England hat er ein gutes Leben geführt, dafür sorgte ich stets. Jedoch ist es kein Geheimnis, dass er sich oft nach Tansania zurücksehnte. Nicht nur, dass sein Herz auf ewig dort schlägt, sondern auch, weil er in Manchester gar sehr durch seine ungewohnte Pigmentierung auffiel und mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, als ihm lieb war. Daher rührt immerhin auch sein Spitzname – Anders.


Doch ich schweife ab.


08.05.1923

Vor wenigen Stunden erreichten wir den Hafen von Dar es Salam. Glücklicherweise kümmerte ich mich bereits in England um eine geeignete Unterkunft für uns drei, denn es scheint, als hätte die Hafenstadt sich bereits für die karge Regenzeit vorbereitet und die meisten Hotels sind geschlossen. Auch bezüglich einem Fahrzeug sieht es schwierig aus, wie man mir mitteilte. Fernand besucht zurzeit die hiesigen Transportunternehmen, wirkte aber etwas hoffnungslos, als er mir vor einer Stunde Bericht erstattete. Ich schickte ihn abermals los und glaube, dass sich für ein Bündel britischer Pfund bestimmt etwas einrichten lässt.


11.05.1923

Die gut gemachte Zeit auf dem Roten Meer verlieren wir aufgrund der schlechten Verhältnisse und des Zustands unseres Transportmittels, mit welchem ich womöglich den Jahrgang teile. Der Fahrer jedoch scheint mir ein erfahrener zu sein, so dass mich der Umstand wenig kümmert. Anders schöpft neue Kraft, das sieht man ihm an. Neue Energie fließt durch seine Glieder und ein altbekannter Glanz ist in seine Augen getreten. Er verbringt die Fahrt schweigend, sein Blick erfasst jedoch jedes Detail unserer Umgebung, als suche er darin etwas Vertrautes. Auch mein Körper scheint sich in dem Klima seiner alter Stärke zu erinnern und jeder Atemzug macht mich Jahre jünger, so scheint es mir. Fernand hingegen scheint die Hitze allzu sehr zu Kopf zu steigen, sodass er sich die ganze Reise über auf der Ladefläche ausgestreckt hat.


16.05.1923

Mein Vertrauen in unseren Fahrer findet sich bestätigt. Wir fanden den Ort tatsächlich, wo Anders und ich uns zum ersten Mal trafen. Keine Siedlung ist in der Nähe, nur hohes Gras und vereinzelte Akazienbäume.


Ich bat den Fahrer wie auch Fernand, uns für einige Stunden alleine zu lassen, und so sitzen wir hier, mein alter Freund und ich. Die Unruhe ist ihm anzumerken, aber er drängt mich nicht zum übereilten Lebewohl.


Unter eben jenem Blätterdach, wo wir nun ruhen, sah ich ihn damals. Jung und kräftig, aber verletzt durch die Waffe eines anderen Jägers. Ich hätte ihn leichtes töten können, hatte es mir gar überlegt. Doch seine einzigartige Schönheit traf mich ins Herz und ich wusste, dass ich mir niemals verzeihen könnte, jetzt die Büchse abzufeuern. Ich ließ ihn leben und kehrte am nächsten Tag zurück. Noch immer sass er im Schatten desselben Baumes. Also nahm ich ihn mit, ließ seine Wunde versorgen und brachte ihn nach England, wo eine tiefe Freundschaft Wurzeln fasste.


Wie sonderbar, dass eine solch ungewöhnliche Bindung von Dauer sein konnte. Doch mein Herz schmerzt es, daran zu denken, dass heute der Tag des Abschieds ist. Ohne Worte, ohne Tränen wird es vonstattengehen und dennoch kann ich mir keine einschneidendere Trennung denken.


Es ist geschehen. Meine Hand ließ ihn gehen. Dieselbe Hand, die ihn damals schonte, öffnete heute das Tor seines Käfigs. Er verließ ihn gemächlich, beinahe vorsichtig, testete den Grund, fühlte das Gras. Dann wandte er sich zu mir um, schenkte mir einen langen Blick aus hellblauen Augen. Darin lag mehr Liebe und Verbundenheit, als ich sie je mit einem Menschen hätte teilen können. Er schnaubte, schüttelte die schneeweiße Mähne und wandte sich zum Gehen. Eine Tatze setzte er vor die andere und mit jedem Schritt gewann er an Kraft.


Noch sehe ich ihn knapp als weisser Punkt am Horizont, verfallen in einen Trab, wie er ihn seit Monaten nicht mehr aufzunehmen vermochte.


Anders. Die Savanne hat dich mir geschenkt und nun gebe ich dir die Savanne zurück.


Leb wohl.