Herbert Keller sass in der großen, elegant gestylten Empfangshalle der Superhelden-Zertifizierungsagentur in Zürich und wartete. Das tat er schon eine geraume Weile und sein Dackel Toni winselte. Liebevoll kraulte er ihm die Ohren.

»Ich weiß, ich weiß. Es dauert bestimmt nicht mehr lange.«

Herbert hätte nicht gedacht, dass er mit 52 Jahren einmal hier sitzen würde. Hätte das Stimmvolk nicht kürzlich die Superheldeninitiative gutgeheißen und müsste er sich deswegen nicht zertifizieren lassen, um überhaupt noch Aufträge zu erhalten, dann wäre er jetzt bestimmt nicht hier. Der ganze Bürokratie- und Papierkram war ihm schon immer zuwider gewesen.

Vielleicht war es an der Zeit, seine Superhelden-Karriere an den Nagel zu hängen. Die Luft war dünn geworden und dank des Internets und all den neuen Medien hatte sowieso jeder das Gefühl, ein Superheld zu sein.

Dabei liebte Herbert sein Handwerk. Er gehörte noch zur alten Garde, zu jenen Superhelden, die sich nicht mit neuzeitlichen Gadgets modifizieren mussten, um sich Superheld zu nennen. Er war noch ein echter Held mit echten Kräften und konnte ganz klassisch durch die Luft fliegen. 

Umso unverständlicher fand er es, dass er sich jetzt noch zertifizieren lassen musste. Dass er ein echter Superheld war, daran bestand ja wohl kein Zweifel. Aber – und das wurde ihm beim letzten Bewerbungsgespräch gesagt – ohne ein Zertifikat dürfe man ihn leider nicht einstellen, auch wenn er wirklich super in das Team passen würde. Er hatte die Stelle natürlich nicht erhalten.

Außerdem brauchte man heute einen Sidekick, jemanden, der den Superhelden in seiner Tätigkeit unterstützte. Was dieser genau bewirken sollte, wusste Herbert auch nicht, denn früher hatte er immer alleine gearbeitet und das sehr erfolgreich. Keiner war gestorben oder anderweitig zu Schaden gekommen, niemand hatte ihn verklagt. 

Und genau genommen hatte er ja bereits einen Begleiter, den Besten, den es gab. Als hätte Toni seine Gedanken gelesen, himmelte der Dackel sein Herrchen mit kugelrunden braunen Augen an und ließ die Zunge aus dem Maul hängen.

Als Herbert das klackernde Geräusch von einem Paar Schuhen auf dem Marmorboden vernahm, blickte er auf. Auf der großen geschwungenen Treppe kam ihm eine adrett gekleidete Frau mit dunklem, streng zurückgebundenem Haar entgegen. Als sie ihn erreicht hatte, streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Herr Keller?«

Herbert hatte sich erhoben und ergriff ihre Hand. Toni wedelte erfreut.

»Genau. Mit Toni.«

Die Dame blinzelte, dann verstand sie. Sie lächelte. »Sehr schön. Herzlich willkommen. Bitte, folgen Sie mir.«

Sie machte eine Handbewegung zur Treppe. Herbert zwinkerte seinem Dackel zu und die drei setzten sich in Bewegung.

»Sie sind also hier, um sich zertifizieren zu lassen«, begann sie. Herbert runzelte die Stirn und fragte sich, ob diese Agentur denn noch etwas anderes tat, aber dann kam er zum Schluss, dass dies wohl einfach die plumpe Einleitung für ein Gespräch war.

»Zwangsläufig. Heutzutage bleibt einem ja nichts mehr übrig, wenn alle nach Gutachten, Zertifikaten und Nachweisbescheinigungen schreien.« Er zwang sich zu einem Lächeln.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Bei uns sind Sie in den besten Händen und erhalten alle nötigen Unterlagen, damit Sie als Superheld weiterarbeiten können.«

Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und die Dame führte ihn in ein kleines, kahles Zimmer, in dem nur ein Tisch mit einem Stuhl und ein Benjaminbaum standen.

»Setzen Sie sich. Wir beginnen gleich mit den Prüfungen.«

Verdutzt und ein bisschen mutlos ließ sich Herbert auf einen Stuhl fallen und nahm Toni auf den Schoss. 

»Prüfungen?«

»Keine Sorge, alles reiner Papierkram.« 

Ihre anfängliche Professionalität war plötzlich verflogen. Vielleicht war die Sache doch nicht so kompliziert, wie Herbert befürchtet hatte. Sie reichte ihm eine dicke Mappe im A4-Format.

»Da drin befinden sich ein Intelligenztest, ein Test für den gesunden Menschenverstand, ein Test zur Umgänglichkeit und zur sozialen Kompetenz, ein Test zur Selbsteinschätzung und ein Test zur Risiko- und Gefahreneinschätzung und deren Umgang damit. Früher gab es noch Reaktionstests, aber die wurden aufgrund zu hoher Kosten gestrichen.« 

Sie zuckte mit den Schultern und tätschelte Herbert auf den Unterarm. 

»Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie fertig sind, oder Fragen haben, betätigen Sie die Klingel.« 

Sie deutete auf den kleinen Knopf auf der Tischplatte, dann ließ sie ihn alleine. 

Herbert begann, die Tests auszufüllen. Zwischendurch kraulte er Toni die Ohren, das beruhigte seine Gedanken. Die Fragen zur Persönlichkeit konnte er noch gut beantworten und auch der Intelligenztest erwies sich als nicht allzu schwer.

Aber dann kamen all die anstrengenden Fragen zur Risiko- und Selbsteinschätzung, und Herbert wusste, wenn er dort falsch antwortete, konnte ihn dies das Zertifikat kosten. Er quälte sich durch die Fragebögen, wägte ab, strich Antworten durch, um sie einen Augenblick später fast genau so wieder hinzuschreiben. Der Stapel der Blätter, die er durchzuarbeiten hatte, verringerte sich quälend langsam, und der Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass er nun schon mehrere Stunden hier sass. Er seufzte resigniert. Toni hatte sich mittlerweile zusammengerollt und schlief. 

Zum Schluss kamen die Fragen zum Sidekick. Die konnte er wenigstens einfach und mit gutem Gewissen beantworten.

»Wie heißt Ihr Sidekick?«

»Toni.«

»Weiß Ihr Sidekick, wie er/sie Sie zu unterstützen hat?«

Er warf einen Blick zu Toni, der leise schnarchte.

»Ja.«

»Steht Ihnen Ihr Sidekick auch in schwierigen oder gar lebensbedrohlichen Situationen bei?«

»Ja.«

»Würden Sie Ihr Leben für Ihren Sidekick riskieren?«

Was war das denn für eine Frage?

»Ja.«

Die restlichen Fragen überflog er nur noch, er hatte keine Nerven mehr übrig. Dann schob er die Fragebögen zusammen und drückte den Knopf.

Einen Augenblick später erschien die Dame in der Tür. Sie nahm den Stapel Papiere, schaute die Antworten durch und machte sich einige Notizen. Herbert beobachtete sie ungeduldig. Bei den Seiten über den Sidekick hielt sie inne.

»Sie haben Ihren Hund als Sidekick angegeben?«, fragte sie verwundert.

»Ja, ist das ein Problem?«, fragte Herbert zögerlich. »Ich habe niemand anderen.«

»Nein, nein«, antwortete Sie verwirrt. »Das ist nur ungewöhnlich, denn normalerweise sind Sidekicks keine … Hunde. Aber das ist kein Problem, natürlich können Sie Ihren Hund als Sidekick angeben.« 

Sie räusperte sich und blickte Herbert fragend an. »Aber ich nehme an, er muss erst noch zertifiziert werden?«

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