Jetzt fehlten schon wieder zwei. 

Katharina stand in der Waschküche im Keller und musterte die zusammengefaltete Wäsche vor sich missmutig. In den Händen hielt sie eine hellgraue und eine zartrosa flauschige Kuschelsocke und hätte schwören können, dass sie heute alle vier in die Wäsche gesteckt hatte. Die Wäschetrommel hatte sie natürlich leergeräumt und beim Abhängen nichts am Boden liegen sehen. Katharina war sehr ordentlich, vor allem, was die Wäsche anging, und so schloss sie aus, dass die beiden fehlenden Socken irgendwo im Haus herumlagen.

Sie waren einfach verschwunden.

Suzette, ihre flauschige, norwegische Waldkatze riss sie aus den Gedanken. Sie stand in der Tür und forderte mit vorwurfsvollem Miauen ihr Abendessen.

Katharina griff nach der Wäsche, löschte mit dem Ellenbogen das Licht und stieg mit einem großen Schritt über Suzette hinweg. Diese machte kehrt und eilte den Gang entlang zur Treppe.

Plötzlich hielt Suzette vor der angelehnten Tür des Einbauschrankes inne und mit gesträubtem Fell linste sie durch den Spalt. Katharina wäre beinahe über sie gestolpert. Sie vollführte fluchend einen Ausfallschritt, verfehlte die Katze und schaffte es, die Wäsche nicht fallenzulassen. Mit einem Ruck schob Katharina die Tür zu und machte sich in Gedanken eine Notiz, die kaputte Tür endlich zu reparieren. Wie so vieles andere in diesem Haus.

»Ach, Suzette, sei doch nicht immer so ein Schisser!«

Mit diesen Worten scheuchte sie die Katze die Treppe hinauf.

In der Küche versorgte sie Suzette mit einer Hand voll Trockenfutter und ging anschließend ins Schlafzimmer, um die Wäsche im Kleiderschrank zu verstauen. Die beiden einzelnen Flauschesocken warf sie zu den anderen Einzelgängern. Bei ihren Freunden tauchten verlorene Socken spätestens nach der nächsten Wäsche wieder auf, aber ihre blieben einfach verschwunden.

Sie putzte sich die Zähne und machte sich bereit fürs Bett. Suzette hatte sich schon den besten Platz ausgesucht und Katharina nur einen schmalen Streifen am Rand des Bettes übrig gelassen. Das gehörte zum Abendritual. Katharina quetschte sich neben Suzette, kraulte ihr das flauschige Fell und ließ sich in den Schlaf schnurren.

Als Katharina am nächsten Morgen erwachte, war Suzette verschwunden.

Normalerweise verbrachte die Katze die ganze Nacht bei ihr und sass morgens auf dem Kopfkissen, um ihrem Hunger in voller Lautstärke Ausdruck zu verleihen. Mit leichten Kopfschmerzen schwang Katharina ihre Beine aus dem Bett, zog sich an und wankte in die Küche.

Von Suzette fehlte jede Spur. 

Dafür entdeckte Katharina ein paar flauschige Fellbüschel neben dem Futternapf. Und die Blutstropfen.

»Suzette?«

Doch das vertraute Miauen blieb aus. Katharina kniete sich nieder und betrachtete die Spuren. Dass hier Haare lagen, konnte nur bedeuten, dass Suzette gekämpft haben musste. Aber mit wem? Suzette war eine Wohnungskatze. Und das einzige Haustier.

Katharina folgte der Spur, die aus der Küche in den Keller führte, und zu ihrer Beunruhigung wurden die Tropfen immer größer. Unten im Flur stand die Tür des Einbauschrankes offen.

»Suzette?«

Katharina warf einen Blick in den Schrank, aber außer Mäntel und Winterbekleidung konnte sie nicht viel entdecken. Als ihr Blick auf den Boden fiel, blieb beinahe ihr Herz stehen. Die Blutstropfen waren zu handtellergroßen verschmierten Flecken geworden und es sah aus, als hätte sich Suzette über den Boden geschleift.

Oder wäre geschleift worden.

Mit zitternder Hand schob Katharina die Kleider beiseite. In der Rückwand prangte ein rundes, fast ein Meter grosses schwarzes Loch und dahinter tat sich ein niedriger Tunnel auf. Modrige, kalte Luft schlug ihr entgegen und ihr Mund war mit einem Schlag staubtrocken. Im ersten Moment war sie viel zu verwirrt, um ihre Entdeckung einzuordnen. Sie hatte ein Loch im Keller. Seit wann? Woher? Wer hat es geschaffen? Und was war mit Suzette geschehen? Die verklebten Haarbüschel am modrigen Holz liessen keinen guten Schluss zu.

»Suzette, bist du hier?« Ihre Stimme zitterte. Es war ein Irrsinn, ein Loch im Keller und eine verschwundene, verletzte Katze. Das konnte nicht gut enden.

Gerade, als sie zurückgehen wollte, um ihren Bruder anzurufen und ihm alles zu erzählen, drang ein Geräusch aus dem Tunnel zu ihr. Ein Miauen?

»Suzette?«, rief Katharina, diesmal lauter. Es kam ihr vor, als würde die Dunkelheit vor ihr ihre Stimme verschlucken. Wenn das wirklich Suzette gewesen war, dann musste sie handeln und konnte nicht auf Hilfe warten.

Auf der Hutablage fand sie eine Taschenlampe und machte sie sich auf in den Tunnel. Sie konnte sich nur auf allen vieren fortbewegen, da der Gang so niedrig war, und nach wenigen Metern waren Knie und Hände bereits schwarz und feucht von Erde und Dreck.

Sie folgte dem leicht abfallenden Gang und rief immer wieder den Namen ihrer Katze, aber sie bekam keine Antwort.

Dann begann sich der Tunnel zu verändern. Er wurde ein wenig breiter und auch höher, und nach ein paar weiteren Schritten spürte sie Fels unter sich. Spitze Steine stachen in Knie und Handflächen, aber der Schmerz kam ihr nichtig vor, wenn sie daran dachte, was wohl mit Suzette geschehen sein mochte.

Schließlich wurde der Gang noch breiter und verzweigte sich in alle Richtungen. Das Licht der Taschenlampe schälte Stalaktiten aus der Dunkelheit, die verzerrte Schatten an die Wände warfen.

Und dann entdeckte sie Suzette. 

Die Katze lag auf der Seite und von ihrer flauschigen Erscheinung war nichts mehr übrig. Rippen stachen durch das Fell, und als Katharina näher robbte, um das Tier zu untersuchen, bemerkte sie, dass es vollkommen blutleer war.

Ihre Hand hielt über dem Tier inne, sie wagte es nicht, es zu berühren. Auch, weil sie nun die Spinnweben sah, die von Suzette fort zu den Wänden und hoch zu den Stalaktiten führten.

Nur, dass es gar keine Stalaktiten waren.

Es waren Kokons aus zartrosa, hellgrauen und anderen Flauschesocken. Der Gedanke war absurd. Da hatte wirklich etwas ihre Flauschesocken als Nisthilfen missbraucht.

Die meisten Kokons waren bereits aufgebrochen und das, was ursprünglich darin gewesen war, war verschwunden.

Bevor sie jedoch den Rückweg antreten und den Kammerjäger rufen konnte, vernahm sie ein schabendes und klackerndes Geräusch von vielen chitingepanzerten Beinchen auf dem felsigen Untergrund, das aus allen Gängen schnell näher kam.

Bild über stocksnap.io, von Snufkin