Philipp durchtrennte die Dornenzweige mit seinem Schwert. Er war endlich beim Schlosstor angekommen. Glücklicherweise stand es offen. Interessant war auch, dass die Dornen hier zurückgingen und lediglich noch die Mauern umrankten. Die Hexe hatte es wohl nicht als notwendig empfunden, den Weg hier auch noch zu versperren. Philipp sollte es recht sein. Er eilte zum Turm, ging hinein und stürmte die Treppe hinauf.

Als er den kleinen, runden Raum erreichte, hielt er einen Moment inne. In Realität war Prinzessin Aurora noch viel schöner als in den Erzählungen. Er ging näher heran, um sie genauer zu betrachten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich, der einzige Hinweis darauf, dass sie noch lebte. Sie atmete so ruhig wie niemand anderes.

Philipp beugte sich herunter, um ihr den rettenden Kuss zu schenken. Vorsichtig legte er seine Lippen auf ihre, als könnte sie jeden Moment unter seinem Gewicht zerbrechen. Er küsste sie langsam und liebevoll. Daraufhin richtete er sich auf und wartete. Ihre Augen blieben geschlossen. Ob er es noch einmal versuchen sollte? Er hatte so etwas noch nie gemacht, er wusste nicht, wie das ablief. Musste sie sofort aufwachen? Wie lange sollte man abwarten?

Gerade, als er sich erneut herunterbeugen wollte, blinzelte sie, begleitet von unartikuliertem Murmeln. Sie blinzelte noch einmal und ein weiteres Mal. Erschrocken fuhr sie hoch und lehnte sich an den Bettkopf.

«Wer bist du?», sagte sie.

Philipp wusste nicht, was er antworten sollte. Man hatte ihm gesagt, sie würde ihn lieben, wenn er sie rettete.

«Hast du mich geweckt?»

«Ähm… Ich… Ich bin gekommen, um dich zu retten.»

«Retten, wovor?»

«Ähm…» Damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte ihr nun doch nicht sagen, dass da draussen eine böse Hexe herumlief, die sie tot sehen wollte. Oder etwa doch?

«Wo sind wir hier überhaupt?»

Aurora stand auf und sah aus dem Fenster. «Ach, du Scheisse», sagte sie. «Was ist denn hier passiert? Wie bin ich in diesen Turm gekommen und wer hat all das Zeug hergeschafft?»

Philipp war ratlos. Er hatte keine Antworten auf diese Fragen. Das hatte ihm niemand erklärt. Man hatte ihm lediglich gesagt, dass die Prinzessin in dem Turm zu finden war. Er war davon ausgegangen, dass sich alles ergeben würde, sobald er den Raum gefunden hatte.

Sie wandte sich ihm zu. «War ich betrunken?», fuhr sie fort. «Hast du mich abgefüllt?» Sie hob ihm den Zeigefinger entgegen und machte einen Schritt auf mich zu. «Wehe, du hast irgendetwas mit mir gemacht…»

Er hob abwehrend die Hände. «Hey, stopp, warte mal, ja?» Zu seiner Erleichterung nahm sie die Hand herunter. «Ich habe gar nichts gemacht. Ich bin gerade erst angekommen. Man sagte mir, es gäbe eine Prinzessin zu retten und das habe ich getan. Weiter nichts.»

«Ja, klar! Und das soll ich dir jetzt glauben?»

«Du hast doch gerade gefragt, was hier passiert ist.»

Sie wartete, bereit zuzuhören.

«Nun, du hast geschlafen. Für eine Weile. Sieben Jahre um genau zu sein.»

Sie hob die Augenbrauen. Dann lachte sie drauflos. «Sieben Jahre! Kann nicht sein! Sorry, Kumpel, langsam wird das alles ein bisschen lächerlich!»

«Erinnerst du dich denn nicht? Du wurdest verzaubert und das Schloss mit dir! An einem Spinnrad hast du dich gestochen!» Als sie nicht antwortete verlor Philipp seinen Mut sogleich wieder. «Oder etwa nicht? Ich weiss nicht, was ich sonst noch tun soll.»

Aurora war auf einmal still geworden. Sie ging in dem Zimmer auf und ab und sah zu Boden. «Spinnrad…», murmelte sie vor sich hin. «Ein Spinnrad.» Sie blieb stehen.

Philipp beschloss, es auf eine andere Art zu versuchen. «Wenn ich irgendwie helfen kann…»

Sie machte eine herrische Geste. «Mund halten.»

Ihr Nachtkleid umschmeichelte ihren schönen, schlanken Körper, als sie erneut zum Fenster ging. Dieses Mal schaute sie länger hinaus. Philipp kam sich ein wenig überflüssig vor, doch gehen kam nicht in Frage. Er hatte eine Quest angenommen, er musste sie beenden. Ausserdem wartete er immer noch darauf, dass Aurora ihm ihre Liebe gestand. So funktionierte das doch! Man hatte ihn vor den Dornen und der Hexe gewarnt, aber nicht vor dem hier!

Aurora drehte sich so plötzlich um, dass Philipp beinahe erschrak. «Welches Jahr haben wir?», fragte sie.

«Wie bitte?»

«Na, du weisst schon, welches Jahr?»

«Ich verstehe nicht… Warum willst du das denn wissen, wir befinden uns einem Märchen, da gibt es keine Jahreszahlen.»

«Komm her!», befahl sie. Als er näher trat, zerrte sie ihn zum Fenster. «Sieh hinaus. Sieh dir alles genau an. Das ist das Schloss meines Vaters. Alles ist verwachsen und verfallen. Kommt dir das vor wie ein Märchen? So etwas passiert nicht in sieben Jahren! Ausser, ausser…» Sie ging wieder im Raum umher.

Philipp folgte ihr. «Du erinnerst dich, also? Du weisst, was geschehen ist?»

Sie schaute ihn an. «Ja, du Idiot! Deshalb muss ich ja das Jahr wissen.»

Wiederum wusste er keine Antwort.

«Du kapierst es nicht, was? Die Hexe war jung, als sie den Fluch ausgesprochen hat. Sie muss gealtert sein. Wie älter sie ist, desto besser unsere Chancen, sie zu besiegen. Deshalb muss ich wissen, was für ein Jahr wir haben. Ich gehe eine Zeitung suchen.»

Als sie hinausstürmte, eilte er zu ihr und hielt sie fest. «Warte.»

Energisch entzog sie ihm ihre Hand.

«Was ist mit uns?», sagte Philipp. «Wir sollten uns verlieben und heiraten, weisst du das denn nicht? Der Prinz, der eine Prinzessin rettet, bekommt sie am Schluss.»

«Was für eine verdrehte Weltsicht ist das denn, bitte? Heiraten!» Sie spuckte das Wort regelrecht aus. «Wir kennen uns ja noch nicht einmal! Du hast zwei Möglichkeiten. Du kannst mitkommen und mir helfen, die Schlampe unschädlich zu machen oder du kannst zu deiner Mami zurückgehen, wenn du Schiss hast. Deine Entscheidung. Ich suche jetzt eine Zeitung.»