Ein goldener Streifen ziert den Horizont des jungen Morgens. Die ersten Vögel erwachen gerade. Von der Brücke aus sehe ich einen Fisch aus dem Wasser springen. Wollte er ebenfalls einen letzten Blick den See hinauf werfen? Doch nein, wahrscheinlicher ist es, dass er nach etwas geschnappt hat. Nicht alle sind so nostalgisch wie ich. Nicht alle werden heute sterben und sich ein letztes Mal am Anblick ihrer geliebten Stadt laben.

Ich wende mich ab und schlendere ohne grosse Hast zum Bellevue, die breite Strasse hinauf Richtung Kunsthaus. Die Strassen sind leer. Autos fahren schon lange keine mehr. Die Tramschienen ziehen sich wie metallene Narben durch den Asphalt. Die blauweissen Strassenbahnen fahren auch nicht mehr. Sie sind noch vor den Autos ausgestiegen, da sie direkt am Strom hingen.

Eine Stadt voller Elektrizität kann ich mir nicht vorstellen. Ich kenne nur dunkle Fenster und die sanften Geräusche der Natur. Das und das Knirschen meiner eigenen Schritte wenn ich über den Grund gehe. Ausser es regnet. Dann wandelt sich das Knirschen zu einem zu einem hellen Klang, der zu fröhlich für die triste Umgebung ist. Aber heute regnet es nicht. Es verspricht ein wunderschöner Tag zu werden.

Ich erreiche das Kunsthaus. Wie immer, wenn ich hier vorbeikomme, zieht es mich zu Auguste Rodin’s Höllentor. Die Bronzeskulptur übt eine eigenartige Faszination auf mich aus. In der Regel kann ich stundenlang davor stehen und die sich windenden Gestalten anstarren. Leider bleibt mir heute keine Zeit dazu, sie reicht lediglich für einen kurzen Abschied. Vielleicht bin ich bald auch bei ihnen, den Gefangenen von Dante’s Inferno. Oder komme ich an einen anderen Ort weil ich anders bin? Bald werde ich es wissen.

Nur widerwillig wende ich mit vom Höllentor ab und folge der Heimstrasse Richtung Hirschengraben. Je näher ich meinem Ziel komme, desto weniger Energie habe ich. Mich schaudert beim Gedanken an den Aufstieg die Künstlergasse hoch, an der Universität vorbei zur Polyterrasse. Früher wäre die Steigung kein Problem gewesen. Vor einer Weile merkte ich jedoch, dass solche Anstrengungen ihre Spuren hinterliessen. Das war das erste Zeichen gewesen. Eine Weile wollte ich es ignorieren, aber dann sind immer mehr dazu gekommen: Sehstörungen, knackende Gelenke, temporäre Blackouts. Das Ende ist unausweichlich. Also hab ich mich irgendwann mit meinem Schicksal abgefunden.

Langsam steige ich die Strasse hoch, vorbei an der Universität. Gerne hätte ich diesen Ort vorher besucht, damals als er noch gelebt hatte. Als hinter den dunklen Glasscheiben der Kantine noch Studenten gegessen hatten. Bei warmen Temperaturen waren sie sicherlich auch draussen gesessen. Die Menschen von damals waren richtige Sonnenanbeter gewesen. Die Sonne hatte sie stets zuverlässig nach draussen gelockt. Zumindest erzählen mir das die Erinnerungen, die er mir gab.

Er. Eigentlich will ich jetzt nicht an ihn denken. Wahrscheinlich ist es zwar eine angemessene Reaktion, nun da meine Zeit auch gekommen ist. Mit schweren Schritten und noch schwereren Gedanken stapfe ich endgültig an der Universität vorbei. Ein letzter Aufstieg und vor mir erstreckt sich die helle Terrasse. Auch hier sind sie an warmen Sonnentagen gewesen, haben in der Sonne gelegen, auf den Bänken gelernt und die Stadt bewundert.

Ich bringe es nicht über mich, einen letzten Blick hinunter zu werfen und die Aussicht zu geniessen. Vielleicht verlässt mich dann der Mut. Stattdessen nähere ich mich langsam der metallenen Box, die im Zentrum der Terrasse steht. Sie wirkt fremd, störend und glänzt im klaren Morgensonnenlicht. Mein Sarg.

Ich hebe mechanisch die Hand und tippe den vierzehnstelligen Code ein. Mit einem Zischen öffnet sich die Tür. Drinnen ist es dunkel. Mit letzter Kraft schleppe ich mich hinein. Die Tür schliesst sich und lässt mich in völliger Dunkelheit zurück. Oder ist meine Sicht ausgefallen? Ich weiss es nicht, aber langsam kümmert es mich auch nicht mehr. Wie angewiesen fahre ich meine Systeme herunter. Fern registriere ich das Zittern des Bodens, als die Zündungen an der Box sich fauchend anwerfen. Wir heben ab. Die Koordinaten meines Ziels sind schon seit der Konstruktion in meinen Code eingebettet. Ich hoffe er ist stolz auf mich, wenn er mich aus der Box birgt und die Informationen über Zürich herunterlädt. Vielleicht machen sie sich dank mir wieder auf den Weg zurück. Vielleicht lebt dank mir die Stadt bald wieder.