Mario war tief versenkt in seine morgendliche Apathie. Er genoss diese Zeit, umgeben von teils grummeligen, teils euphorischen, teils teilnahmslosen Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit oder an einen anderen Bestimmungsort waren. Marios Musik war voll aufgedreht. Dieser Umstand brachte ihm einen bösen Blick der Oma  gegenüber ein. Der junge Mann beachtete sie jedoch nicht weiter. Soll sie doch später reisen und nicht während der Stosszeiten. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie ja die Wahl welchen Zug sie nahm.

Im Bahnhof angekommen herrschte das übliche Gedrängte. Mario pflügte geübt durch die Menschenmasse, begleitet vom Beat seines gut gelaunten australischen Hip Hop.

Als er ein Zupfen am Arm verspürte, ignorierte er es zunächst. Doch es war kein gehetzter Pendler, der in rüde aus dem Weg bugsieren wollte, sondern eine junge Frau. Überrascht blieb Mario stehen. Die Frau passte nicht ins Bild des Morgenvolkes. Sie trug ein sommerliches Leinenkleid mit einem tiefen Ausschnitt, dass eher zu einem Sonntagsausflug als zu einem nebligen Montagmorgen passte. Ihre Lockenmähne wirkte ungezähmt und reichte ihr bis zur Taille. Eine einzelne Blume steckte darin. Die caramelfarbene Haut und die Gesichtszüge liessen auf eine südländische Herkunft schliessen.

Sie war hübsch. Und wäre es nicht Montagmorgen sondern Freitag- oder Samstagabend gewesen, hätte Mario gerne ein Schwätzchen mit ihr gehalten. Aber nicht jetzt. Er hatte zu tun. Heute war ein wichtiger Tag.

Eben wollte er sich an ihr vorbeidrängen, als ihr Arm vorschnellte und ihn mit überraschender Kraft festhielt. Genervt riss Mario sich die Kopfhörer aus den Ohren.

«Was willst du von mir?», blaffte er sie rüde an. Wahrscheinlich wollte sie Geld oder sonst irgendetwas von ihm.

Die junge Frau biss sich kurz auf die Lippen, dann sprach sie mit starkem spanischem Akzent: «Tu es nicht.»

Mario sah sie verständnislos an.

«Dies wird ein Wendepunkt in der Geschichte sein. Aber die Menschen sind noch nicht dazu bereit. Deine Arbeit wird in die falschen Hände geraten. Tu es nicht.»

Den jungen Mann durchlief ein Schaudern. Gerne hätte er die Warnung als sinnloses Geplapper abgetan. Fakt aber war, dass die Worte etwas in ihm weckten. Es war genau der Zweifel, den er selbst verspürt hatte, der nun mit den Worten der Spanierin resonierte.

Gröber als er vorgehabt hatte, packte er sie an den Schultern und schob sie aus dem Strom der Pendler. Im Eingang einer noch geschlossenen Bahnhofsboutique blieb er mit ihr stehen.

«Warum sagst du mir das?», drängte er.

«Ich sehe die Gabelung im Weg», erklärte die junge Frau mit glasigem Blick. «Ich folge den Steinen, die in den Fluss der Zeit geworfen werden und reite auf den Wellen, die die Ereignisse schlagen.» Ihre Stimme war emotionslos, so, als ob sie etwas Auswendig gelerntes wiedergeben würde. Mario wartete einen Moment, doch sie sagte nicht mehr.

«Du hast doch nicht alle Taschen im Schrank», murmelte er kopfschüttelnd und begann davonzulaufen. «Drogen sind ungesund, weisst du das nicht?», rief er über die Schultern zurück, doch die Frau war verschwunden.

Den Rest des Arbeitsweges legte er völlig verstört zurück. An seinem Arbeitsplatz angekommen, setzte er sich schwerfällig und startete den Computer. Der Desktop war bis auf ein File leer – Mario mochte es ordentlich.

An diesem Projekt hatte er die letzten Monate gearbeitet. Bevor es seinem Vorgesetzten überreichte, wollte er es noch einmal final durchlesen.

Doch als er das Dokument öffnete, verschwammen die Wörter vor seinen Augen. Stattdessen formte sich das Bild der spanischen Frau vor ihm. Ihre Warnung dröhnte in seinem Kopf.

Konnte sie wissen, an was er arbeitete? Obwohl das Thema eine lokalpolitische Relevanz besass, war es doch sicher übertrieben zu sagen, dass mit der Veröffentlichung der Lauf der Welt verändert würde, oder? Er hatte doch lediglich ein paar Zahlen und Fakten zusammengetragen. Als Analyst machte er das nun seit Jahren schon.

… ohne zu wissen, was diese Projekte für Auswirkungen hatten.

Oder hatte er es immer geahnt und dieses Wissen einfach tief in sich drin in eine dunkle Kammer verbannt? Ihm wurde klar, dass er das Ausmass nie ganz sehen würde.

Aber die junge Frau konnte es. Sie hatte den Zweifel gesät und bereits nach kurzer Zeit hatte dieser tiefe Wurzeln geschlagen.

Mario schloss das Dokument, wählte es mit der Maus an und zog es zum Papierkorb. Eine Weile liess er das File darüber schweben, dann entspannte er den Zeigefinger. Mit dem wohlvertrauten Rascheln verschwand die Arbeit seiner letzten Monate im Papierkorb.

Von plötzlichem Eifer ergriffen, öffnete er ein leeres Dokument in Word und begann seine Kündigung zu tippen.

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