«Genießen Sie die Freiheit, Schulz und kommen Sie so schnell nicht wieder.»

Ich nahm den Beutel mit meinen Habseligkeiten an mich und verließ das Gefängnis ohne noch einmal zurückzublicken.

Kaum hatte ich das Gebäude verlassen, hagelte das Blitzgewitter zahlreicher Kameras auf mich ein.

«Mister Schulz! Willkommen im 22. Jahrhundert», begrüsste mich eine Reporterin. Ich sagte Hallo in die Runde und versuchte ein Loch in der Lichtmauer zu entdecken, sodass ich diesem Hinterhalt entkommen konnte.

«Wie fühlen Sie sich?», fragte eine weitere körperlose Stimme aus der Menge.

«Gut», brummte ich und spähte immer noch mit tränenden Augen um mich.

«Sie waren der erste Mensch, der in den Kryoschlaf versetzt wurde, um seine Strafe abzusitzen. Denken Sie, dass Sie sich in der heutigen Welt noch zurechtfinden werden?»

«Natürlich werde ich das.»

«100 Jahre sind eine lange Zeit.»

«Aber Menschen bleiben Menschen», konterte ich. «So viel wird sich schon nicht verändert haben.»

Wie falsch ich doch lag. Um das zu merken hätte ich das hämische Lachen der Reporter nicht gebraucht.

Nachdem ich dem Journalistenpack endlich entkommen war, lief ich Richtung Stadt. Die Autos am Strassenrand fuhren ohne Bodenkontakt und so wie es aussah brauchten sie auch keinen aktiven Fahrer mehr. Damit konnte ich leben. Als sie mich eingesperrt hatten, wurden die ersten Versuche mit selbstfahrenden Autos durchgeführt. Schön, dass sie es endlich geschafft hatten. Es war nämlich zweifelhaft, ob meine Fahrlizenz nach so langer Zeit noch gültig war. Aber so konnte ich mir vielleicht doch noch ein Auto anschaffen.

Nach einer guten Stunde Fussmarsch erreichte ich die Vorstadt. Auf den ersten Blick sah hier alles normal aus: Hübsche Häuser, gepflegte Vorgärten, spielende Kinder. Grinsend blieb ich einen Moment stehen um die Szene zu beobachten. Da merkte ich, dass die Kinder nicht mit Kreide auf den Asphalt malten, sondern ein Gerät benutzten, das den Untergrund die Farbe verändern ließ. Ich runzelte die Stirn. Hätte ich damals ein solches Gerät gehabt, hätte ich zwar auch damit gespielt, ich konnte den Kindern also keinen Vorwurf machen. Ich ging weiter. Eine Hundesitterin kam mir entgegen. Wenigstens das ist noch gleich, schmunzelte ich in mich hinein. Die Leute kaufen Tiere und haben dann keine Zeit dafür. Doch je näher die Meute kam, desto deutlicher wurde, dass diese Wesen nicht mehr viel mit Hunden zu tun hatten. Einige schienen Mischungen aus Maschinen und Lebewesen mit rot leuchtenden Laseraugen zu sein. Andere waren abscheuliche Kreuzungen, die ihre natürlichen Eigenschaften total verzerrten. Eine Bulldogge bestand aus so viel Muskeln, dass sie kaum mehr laufen konnte. Daneben entdeckte ich einen Chihuaua der fast schon mikroskopisch klein war. Fünf Dalmatiner sahen nicht nur ähnlich sondern bis auf den selben Tupfen identisch aus, sodass sie nur Klone sein konnten und die Sitterin erst! Sie besaß zwar die sinnlichen Kurven einer Frau, doch ihre Haut schimmerte wie Porzellan und Gewinde und Schrauben wurden sichtbar, als das Sonnenlicht richtig darauf fiel. Sie lächelte mich mit ihrem puppenartigen Gesicht an und dackelte mit der Hundemeute an mir vorbei.

Befremdet schüttelte ich den Kopf. Nun musterte ich die Menschen genauer. Die meisten schienen etwas mit sich gemacht zu haben, hier ein Cyborg-Auge, dort ein mechanischer Arm. Ein Mensch der zu 100% natürlich war, schien eine Seltenheit zu sein. Und konnte ich wirklich sicher sein, dass die Leute nichts gemacht hatten? Oder waren sie einfach so gut konstruiert, dass ich den Unterschied nicht erkennen konnte?

Ich erreichte einen Park, in dem weitere Kinder spielten. Zwei Mütter mit Kinderwagen saßen auf einer Bank. Ohne meine Schritte bewusst zu lenken, schlich ich hinter sie, um einen Blick in die Wägen zu erhaschen. Vielleicht, weil mich die unbefleckte Reinheit eines Babys wieder beruhigt hätte. Stattdessen erhielt ich die wohlverdiente Realitätsdusche. Anstatt zwei Wonneproppen in ihren weißen Nestern zu entdecken, starrte ich auf zwei Tanks. Darin schwammen die Embryonen, zwar deutlich schon als Menschen erkennbar, aber noch winzig klein. Über ihre Nabelschnur waren sie mit einem Hardwarekasten verbunden, der sie am Leben hielt und mit allem wichtigen versorgte.

Galle stieg mir hoch und ich stolperte gerade noch rechtzeitig rückwärts, um mich in einen Busch zu übergeben.

Ich brauchte Minuten, um mich zu erholen und auch dann zitterte ich noch wie Espenlaub. Die idyllische Vorstadt kam mir nun wie ein greller Alptraum vor und ich konnte sie nicht schnell genug hinter mir lassen.

Erst als ich das Straßenvolk und die sauberen Häuserreihen hinter mir gelassen hatte, beruhigte ich mich allmählich wieder.

Ein Scheppern holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich erwartete ein weiteres futuristisches Monster, stattdessen fand ich mich im Eingang eines gewaltigen Schrottplatzes wider. «Kenny’s Schrottplatz – Egal wie modern die Welt wird, unsere Arbeit bleibt seit Jahrzehnten gleich. Bring dein Altes, damit du dir Neues holen kannst», stand in blauen Buchstaben auf einem rostigen Schild.

Darunter war eine Handnotiz geheftet worden. «Wir stellen ein.»

Erleichtert stöhnte ich auf. Dies war der perfekte Ort für mich.

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