Ich fand die obersten 1% der Gesellschaft schon immer faszinierend. So wie man einen schillernder Käfer auf der Spitze eines Misthaufen faszinierend finden kann. Er hob sich zwar vom Mist ab, war schön anzusehen, aber ohne ihn konnte er nicht überleben. Ich selbst war weder Mist noch Käfer. Ich war wie eine Fliege, die auch an einem Stück zerquetschter Schnecke oder vergammeltem Pilz ihre Freude hatte. Ein Besucher, anscheinend gern gesehen am Hof, der für gute Unterhaltung sorgte. Ein Barde mit haarsträubenden Geschichten. Zu diesem Fest hatte man mich jedoch für das Gegenteil eingeladen. Ich sollte selbst nicht auftreten, sondern Zeuge werden und die Geschehnisse dann in die Welt hinaus tragen.

Ich war bei weitem nicht der einzige, der die gut gepflasterte Strasse zum Schloss hinaufwanderte. Das Fest war im ganzen Reich gross angekündigt worden.

Das Schloss stellte alle meine Vorstellungen in den Schatten. Ich hatte ein verspieltes Heim, mit rosenumrankten Türmen und im Wind wehenden Wimpeln erwartet. Weiss getüncht mit verspielten Details, eine Augenweide. Überrascht stellte ich jedoch fest, dass das Charmand-Schloss einer Belagerung durchaus mehrere Wochen stand gehalten hätte. Es war zweifellos schön, aber genauso zweckdienlich, mit mächtigen Mauern und gut bemannten Wehrgängen.

Ich folgte einem vollbepackten Karren, der von einem Ochsen gezogen wurde. Im Innenhof herrschte ein herrliches Durcheinander aus Dienern, Dienstleistern und dem oder der einen oder anderen überfordert wirkenden Edelmann oder Edelfrau.

Ich fand ein Plätzchen auf einer Mauer und liess das Gewusel auf mich wirken. Meine Gedanken trugen mich zum Abend. Ich muss gestehen, ich war neugierig. Dachten die Charmands wirklich, dass mich ihre banale Feier beeindrucken würden? Zweifellos würde man an diesem Abend gut speisen. Jemand hatte etwas von glasierten Schwänen und mannshohen Torten erzählt. Aber das alleine reichte nicht, um in meine Annalen einzugehen. Ob die Charmands einen Trumpf im Ärmel hatten?

Als es Abend wurde, begab ich mich ins Innere des Schlosses. Der Marmorboden glänzte im strahlenden Licht hunderter Kerzen. Überall standen Vasen mit frisch geschnittene Rosen. Mir war ein grosszügiges Zimmer zugewiesen, in dem ich mich frisch machen konnte. Dort legte ich meine einfachen Reisekleider ab, die ich den steifen Gewändern von Edelleuten gegenüber bevorzugte. Aber an diesem Abend erwarteten die Gastgeber eine Rolle von mir, also kleidete ich mich in karierte Kniehosen, Samtwams und Seidenhemd. Meine staubigen Stiefel behielt ich an. Einen bewussten Stilbruch sollte man immer in die Garderobe einplanen.

«Jacob Grimm, der Geschichtenerzähler», kündigte mich ein Herald an. So hiess ich auf dieser Welt.  Die meisten Gäste sahen kaum von ihren Gesprächen auf. Aber auf der Empore wandte sich die Königin mir zu und lächelte mich erwartungsvoll an. Schneewittchen war zweifellos eine schöne Frau. Die roten Lippen und das weisse, von rabenschwarzem Haar eingerahmte, Gesicht gab ihrem Antlitz etwas dramatisches. König Charmand hingegen war überhaupt nichts Besonderes, aber das musste er neben einer solchen Frau wohl auch nicht.

Ich machte einen eleganten Diener in ihre Richtung und setzte mich dann an den mir zugewiesenen Platz weit unten beim Landadel. Die dortige Gesellschaft störte mich überhaupt nicht. Freudig wurde dem Bier und dem Wein zugesprochen und der glasierte Schwan wurde mit gebührendem Eifer attackiert.

Während die Torten aufgetragen wurden, erschienen Schauspieler und spielten die Geschichte des Liebespaares nach. Ich wurde dafür auf die Empore gerufen und durfte mich in die Nähe des Herrscherpaares setzen, damit ich eine besonders gute Sicht hatte. Was Geschichten angeht, so war es eine gute, auch wenn die böse Stiefmutter meiner Meinung nach ein wenig klischeehaft war. Die Wohngemeinschaft mit den 7 Bergbauarbeitern hingegen war eine nette Idee. Was mich wunderte, war, dass die Schauspielerin, die die Stiefmutter spielte, besonders schlecht war. Sie vergass ihre Zeilen und konnte ausser Nervosität keine Emotionen an das Publikum übermitteln. Sie war wie eine falsch gestimmte Geige in einem sonst passablen Orchester. Warum hatte man sich mit einer so mittelmässigen Schauspielerin abgegeben? Vielleicht um die Rolle der Hautfigur in einem besseren Licht darstellen zu lassen? Je länger die Geschichte ging, desto schlechter wurden die Leistungen der Schauspielerin. Ich warf einen Seitenblick auf Schneewittchen und staunte über die Vorfreude, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Das Stück war beinahe zu Ende. Schauspielschneewittchen war eben das Apfelstück aus dem Mund gefallen und sie kam wieder zu sich. Charmand half ihr aus dem Sarg und die beiden Schauspieler küssten sich innig und ein bisschen zu lange.

Danach machten sie sich auf an den Hof. Das richtige Schneewittchen stand auf. Alle Schauspieler verschwanden, nur die Stiefmutter blieb zurück. Sie zitterte so stark, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Mit klarer Stimme fuhr Schneewittchen mit der Erzählung fort: «Charmand und ich planten eine riesige Hochzeit; genau ein Jahr ist es her. Stiefmutter konnte es nicht ertragen, sie musste einen Blick auf mich und meinen Bräutigam werfen. Sie trat ein und wollte mir mein Glück verderben. Aber wir hatten vorgesorgt und eiserne Pantoffeln über dem Kohlefeuer bereitgestellt. Sie wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Stiefmutter musste in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.» Die letzten Sätze sprach Schneewittchen ein wenig atemlos. Soldaten betraten den Raum. Einer hielt eine Zange mit  glühenden Eisenpantoffeln, die er nun vor die Schauspielerin stellt. Der Rest stand mit gezückten Schwertern um die Frau.

«Der erste Tanz des Abends gehört euch», forderte Schneewittchen unnachgiebig. Der armen Frau blieb nichts anderes übrig, als ihr Folge zu leisten. Als Erzähler mag ich einen guten Twist zum Schluss. Am Ende der Darbietung stand ich deshalb auf und zollte der Königin meinen Respekt für einen gelungenen, unterhaltsamen Abend. Danach machte ich mich aus dem Staub. Wie es der Zufall wollte, fand ich mich just auf dem Leichenwagen wieder, der die Schauspielerin abtransportierte. Als wir zu einer Kreuzung kamen und ich vom Wagen sprang, liess ich einen kleinen Funken Magie auf sie überspringen. Federn raschelten und dann erhob sich ein prächtiger weisser Schwan in die Höhe und verschwand über den Baumwipfeln. Wahrscheinlich würde ich dafür eine Verwarnung erhalten, aber das war ein Problem für einen anderen Tag.