»Kirin, tritt vor!«

Das Mädchen sah den Schock und das Entsetzen auf den Gesichtern ihrer Eltern, als ihr Name verkündet wurde. Für sie selbst war ihre Ernennung keine Überraschung. Sie hatte schon immer gewusst, dass sie eines Tages durch das Portal treten würde. Wann immer sie ihm nah gekommen war, hatte sie die Stimmen flüstern gehört. Keines der anderen Kinder hatte je etwas von der anderen Seite des Portals vernommen, wie Kirin bei vorsichtig geführten Gesprächen herausgefunden hatte. Seit dann wusste sie, dass sie besonders war und wer besonders war, der würde ernannt werden.

Kirin löste sich aus der Umklammerung ihrer Mutter und schlängelte sich geschwind durch die Menge. Erst jetzt, da sie sich dem Portal und dem grauen Weisen näherte, erkannte sie, dass sie schon immer nach Antworten gehungert hatte. Antworten, die ihr niemand geben konnte. Antworten die sie nur auf der anderen Seite finden konnte.

Sie erreichte den grauen Weisen, ein runzliger Mann mit Glatze und wässrigen kurzsichtig zusammengekniffenen Augen.

Kirin trat neben ihn und blickte in die Gesichter ihrer Freunde, Bekannten und Verwandten. Einige weinten um sie, andere pressten die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch weisse Striche waren. Doch auch Hoffnung leuchtete ihr aus den Augen entgegen.

Gerührt von diesen Emotionen, atmete Kirin einmal tief durch.

Der Alte legte eine Hand auf ihre Schulter und sprach feierlich: »Kirin, du bist auserwählt, um die Stammesprüfung zu absolvieren. Seit Generationen schicken wir alle zehn Jahre einen Jungen oder ein Mädchen durch das Portal, um für uns Erlösung zu finden.«

Geflissentlich ließ er weg, dass bisher noch nie jemand zurückgekehrt war.

Er sprach noch weiter, doch die Worte drangen nicht mehr zu Kirin hindurch. Der einfache Steinbogen mit dem flimmernden, weißen Nebel dazwischen beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Als der Weise endlich endete und sie vor dem Portal postierte, schlug ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Sie winkte dem versammeltenDorf ein letztes Mal zu und trat zwischen den Säulen in den Nebel hinein.

Zehn Jahre verstrichen und ein weiteres Kind, dieses Mal ein Junge wurde durch das Portal geschickt. Ein Jahrzehnt später versammelte sich das Dorf erneut an diesem schicksalsträchtigen Ort. Ein neuer Weiser trat vor, denn sein Vorgänger war gestorben. Er wollte eben den Namen des nächsten auserwählten Kindes verkünden, als die Menge plötzlich laut aufschrie. Ein Knistern ertönte in seinem Rücken. Der Weise wirbelte herum und starrte ungläubig zum Portal. Der träge flimmernde Nebel hatte sich in eine dunkel rotierende Masse verwandelt, in der Blitze wie in einer Gewitterwolke aufleuchteten. So etwas war noch nie passiert! Panisch wich der Alte vor dem Portal zurück. Im zuckenden Licht war nun der Umriss einer Gestalt erkennbar. Ehe sie ganz scharf wurde, brach eine gebräunte Hand durch die Schwärze. Ein Arm folgte und dann tauchte der restliche Körper auf.

Entgeistert starrten die Dorfbewohner die Frau an, die nun vor ihnen stand. Sie besaß das gleiche sandfarbene Haar wie die Leute hier, hatte es jedoch zu eigenartig filzigen Zöpfen geflochten und sich diese mit einem Lederband aus dem Gesicht gebunden. Im Gegensatz zu den Dörflern, trug sie robuste Lederkleidung. Das war jedoch noch nicht das aussergewöhnlichste an der Frau. Es waren die Waffen, die die Dorfbewohner, allesamt Bauern, total aus der Fassung brachten. Am Gürtel der Frau hingen ein Schwert sowie ein langes Messer. Über den Rücken geschlungen trug sie ein Köcher und in der einen Hand einen stattlichen Langbogen. Den Kratzern auf ihrem Harnisch nach, waren diese Waffen nicht nur zur Zierde da.

Die Frau musterte die versammelte Menge kurz, sagte jedoch nichts. Stattdessen wandte sie sich um und der Weise hoffte schon fast, dass sie wieder durch das Portal verschwinden würde, dass es nur ein seltsames Versehen war, dass sie nicht hierhin gehörte. Doch stattdessen trat die Frau zu einer der Steinsäulen. Sie murmelte etwas und zog mit dem Zeigefinger ein Muster über den alten Granit. Ein unheildrohendes Knirschen ertönte. Dort wo die Hand den Stein berührte, entsprach ein Spalt. Wie ein dunkler Blitz weitete sich dieser aus und reiste auf die andere Seite des Steinbogens. Ein Brocken löste sich aus dem Gefüge und polterte zu Boden. Kurz darauf  folgte der Rest.

Zufrieden blickte die Frau auf den Trümmerhaufen.

Erst jetzt wandte sie sich zu den verschreckten Dorfbewohnern um. »Mein Name ist Kirin!«, rief sie mit klarer Stimme. «Vor zwanzig Jahren bin ich durch dieses Portal gegangen. Vermeintlich, um uns zu retten! Ich bin durch viele Welten gereist und habe die Kriege anderer gefochten. Dabei habe ich die Wahrheit erkannt.«

Sie hob ihren Arm und wies anklagend auf den Weisen. »Ihr seid belogen worden. Es gibt keine Erlösung hinter dem Nebel. Da gibt es nur mehr Welten, mehr Konflikte und mehr Menschen, die ihre Ränke schmieden. Wen ihr Erlösung sucht, dann müsst ihr euch selbst die Hände schmutzig machen. Er müsst Risiken eingehen und mutig sein. Ihr habt genug lange in armseligen Hütten gewohnt und trockenen Bodenbeackert. Es ist Zeit, euer Schicksal in die Hand zu nehmen!«

Der alte Mann erholte sich von seinem Schrecken und richtete sich auf. »Und ich nehme an, dass du, du weise, weitgereiste Frau uns in dieses neue aufgeklärte Zeitalter führen willst?«, keifte er anklagend.

Kirin grinste. »Nein, danke. Mich hält hier nichts mehr.«

Sie vollführte eine weitere Geste und zum Erstaunen aller erschien ein rotierender, weisser Nebelfleck vor ihr.

Kirin blickte in die entgeisterten Gesichter. »Ja, ihr seht richtig: ich kann selbst Portale heraufbeschwören. Und ihr könnt das genauso gut lernen. Die Gabe dazu steckt in allen von euch. Ihr müsst nur genug hartnäckig sein und üben.«

Ihr Portal dehnte sich aus.

»Wo gehst du hin?«, rief jemand aus der Menge.

»Bring uns die Magie bei!«, warf ein anderer dazwischen.

Kirin lachte. »Ich geh zurück zu meiner neuen Familie. Ich werde euch nicht helfen, denn ihr müsst endlich lernen, euch selbst zu helfen. Fangt am besten damit an, dass ihr diesen Scharlatan verbannt.« Nachlässig wedelte sie in Richtung des Weisen, winkte schelmisch und verschwand durch ihr eigenes, heraufbeschworenes Portal.