«Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Herr von Bergen.»

Der Mann, Mitte 50, mit piekefeinem Haarschnitt und feinsäuberlich getrimmten Bart, sah verwirrt auf. «Ist etwa schon Feierabend, Frau Robyn?»

«Es ist 8:30, Herr von Bergen. Alle anderen sind bereits seit zwei Stunden nach Hause gegangen.»

Der CEO warf einen Blick auf die gegenüber von seinem Arbeitstisch hängende Wanduhr.

«Ich brauche das Messmer-Dossier bis morgen früh», seufzte er dann und begann in einem Papierstapel neben sich zu blättern.

«Aber das Meeting findet schon um 10 Uhr statt. Zwei Stunden morgen werden nicht reichen, um die besprochenen Änderungen vorzunehmen», protestierte die Sekretärin mit müder Stimme.

«Dann müssen Sie halt noch bleiben. Ich kann hier schliesslich nicht alles selbst erledigen.»

«Das geht nicht. Mein Bruder hat einen weiten Weg auf sich genommen, um mich zu besuchen. Ich bin jetzt schon zu spät.» Noch während sie sprach, wusste Frau Robyn, dass der CEO die Erklärung nicht akzeptieren würde. Sie hätte 24×7 arbeiten können und es wäre nicht genug gewesen. Deswegen lenkte sie schnell ein: «Aber ich kann das Dossier nach Hause nehmen und dort daran arbeiten.»

Herr von Bergen nickte: «Na gut. Ausnahmsweise.»

Erleichtert nahm die Sekretärin den Papierstoss entgegen.

«Vielen Dank, Herr von Bergen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!»

«Jaja. Bis morgen.»

Draussen war es bereits dunkel. Erleichtert atmete die Sekretärin die kühle Abendluft ein und versuchte nicht daran zu denken, dass sie in 12 Stunden bereits wieder an ihrem Pult sitzen musste.

Zum Glück dauerte der Weg nach Hause nicht lange. Ein Klick auf die Armbanduhr reichte und sie wechselte den Ort. Sorgen um Zuschauer machte sie sich nicht. Die meisten würden das Geschehene als Hirngespinnst abtun. Bestimmt hatten sie sich die ältere Frau, die eben noch dagestanden hatte, nur eingebildet. Es war schliesslich ein langer Tag gewesen. Den restlichen 5%, die ihren Sinnen mehr vertrauten, würde dafür niemand anderes Glauben schenken, falls sie wirklich leichtsinnig genug waren, von ihrer Beobachtung zu erzählen.

Die Sekretärin materialisierte in ihrer Wohnung im engen Gang. Wohnfläche in der Stadt war teuer, deswegen reichte es nur für eine kleine Zweizimmerwohnung. Ein unscheinbarer aber grosser Wandschrank diente der Frau als Garderobe.

Sie öffnete die Schranktüre. Ein bleiches Neonlicht sprang surrend an. Doch anstatt einer Auswahl von Jacken, Mänteln und vielleicht dem einen oder anderen Hut, beherrbergte der Schrank etwas ganz anderes. An Haken aufgehängt baumelte etwas, das aussah wie groteske, hautfarbene Neoprenanzüge, über die Kleider gestreift worden waren. Die Anzüge hatten sogar flache, knochenlose Köpfe auf denen sprödes Haar spross.

Es gab drei Versionen von Frau Robyn – alle mit verschiedener Kleidung – und einen Mann, der ungefähr wie Ende Dreissig aussah. Die Sekretärin griff sich an den Nacken wie um den Reissverschluss ihres Kleides zu öffnen und schälte sich langsam aus ihrer menschlichen Hülle. Darunter kam ein nacktes, geschlechtsloses Wesen mit grauer Haut zum Vorschein. Es wies die Statur eines schmächtigen Menschen auf und besass die gleichen Extremitäten. Im Gegensatz zu einem Homo Sapiens war es jedoch komplett haarlos. Der proportional kleine Kopf wurde von zwei grossen, komplett schwarzen Augen dominiert. Der Mund war lediglich ein schmaler, lippenloser Strich und die Nase wenig mehr als eine Erhebung mit seitlichen Schlitzen.

Müde seufzend hing das Wesen die Hülle an den einzigen leeren Haken. Danach nahm es den Stapel mit dem Dossier und schlurfte zum kleinen Wohnzimmer.

Der Rest der Wohnung war normal eingerichtet. Im Schlafzimmer stand ein Bett mit Blümchenduvets, im Bad eine Dusche mit Buddha-Motiv-Vorhang. Die Küche wies ein schönes Geschirr-Set aus, doch ein Besucher hätte vergebens nach Essen gesucht.

Das Wesen setzte sich auf das braune Sofa im Wohnzimmer und begann die Dokumente durchzusehen. Ab und zu schüttelte es den Kopf. Da es keine Pupillen besass, waren seine Augenbewegungen beim Lesen kaum sichtbar.

Plötzlich klopfte es an der Balkonscheibe. Die Wohnungsbewohnerin sah auf. Hinter dem Glas schwebte ein heller Lichtball.

«Endlich», murmelte sie, legte das Papier weg und stand auf.

Sie öffnete die Tür und die Lichtkugel schwebte herein. Schnell begann sie zu rotieren und dehnte sich an den Polen aus. Nach wenigen Augenblicken hatte sich die Gestalt eines weiteren Wesens geformt.

«Bruder. Du bist spät dran», sprach das erste Wesen.

«Ich weiss. Wir sind in der Endphase. Ich konnte nicht früher kommen.»

«Dann ist meine Torur hier bald vorbei?» Hoffnung schlich sich in die Stimme der vermeintlichen Sekretärin.

«Bald ja. Die Evaluationsphase ist vorbei. Nun legen wir uns einen Offensiv-Plan zurecht. Weisst du schon, ob du dir einen Sapiens als Sklave halten wirst?»

Das erste Wesen verzog den lippenlosen Mund zu einem dünnen grinsen. «Ja. Ich habe meine Wahl bereits getroffen.»

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