Das Schreien dauerte nun schon ewig an. Iris hatte den kleinen Olly schon stundenlang herumgetragen. Das schien zu helfen. Aber sie durfte ihn ja nicht immer auf sich haben. Sonst würde er ein Tragekind werden und Probleme in der Krippe haben. Dann konnte sie sich den Wiedereinstieg ins Berufsleben mit ihrem 60% Pensum ans Bein streichen.

Also legte sie ihn hin und begann aufzuräumen: leere Schoppenflaschen, feuchte Mulltücher, Kaffeetassen, in denen der Satz bestimmt schon versteinert war. Begleitet wurde ihre Aufräumaktion vom Schreien des Säuglings.

Iris hielt sich für eine geduldige Person. Im Büro hatte sie kaum was aus der Ruhe gebracht. Aber dieses Schreien brachte die falschen Saiten in ihr zum Schwingen. Sollte dieses hilflose Gebaren in ihr nicht einen Mutterinstinkt wecken? Stattdessen wollte sie nur eins: Davonlaufen. Was für eine schreckliche Person sie doch war. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie energisch wegwischte. Sie trug die Schoppenflaschen und Kaffeetassen zur Spüle, die leider nicht leer war. Toms Frühstück Geschirr lag darin. Ein Seitenblick auf die Maschine bestätigte, der Inhalt war nicht frisch gewaschen. Ihr Kerl war einfach nur faul.

Ohne Rücksicht auf Kollateralschaden warf Iris ihr dreckiges Geschirr dazu. In diesem Moment fing Olly in einer neuen Tonlage an zu schreien. Die erschöpfte Mutter krallte die Hände an der Armatur fest. Verzweifelt versuchte sie den Hass, der in ihr aufstieg zu verdrängen. «Das ist der Schlafmangel. Du liebst ihn. Er ist dein ein und alles», flüsterte sie wie ein Mantra vor sich hin. Aber es nützte nichts. Olly schrie weiter und sie spürte ihr Herz in ihrem Hals pochen – aber nicht auf die gute Art und Weise. Ihr kamen die Schauergeschichten aus dem Wochenbettkurs in den Sinn. Schütteln sie nie das Kind! Das kann lebensgefährliche Schäden anrichten. Damals mit nachklingendem Hormoncocktail der Geburt im Blut hatte sie diese Warnung als befremdlich wahrgenommen. Natürlich würde sie ihr Kind nie schütteln. Das würde sie nie über ihr Herz bringen.

Aber jetzt sagte ihr Herz etwas anderes. Es sagte, dass es am Ende war, dass vor Erschöpfung kein Platz für Liebe mehr da war und dass, so wahr im Gott beistehe, wenn Olly noch eine Minute länger schrie, es etwas tun würde, was es bereuen würde.

Iris stürzte am weinenden Kind im Stubenwagen vorbei und ihr Schlafzimmer. Die Läden waren noch unten, das Bett ungemacht. Sie schlug die Tür hinter sich zu und rutschte daran hinunter. Ollys Schreien klang gedämpft durch das Holz.

«Hör auf, Hör auf damit!», klagte sie, hämmerte ihre Hände auf den Laminatboden und wippte vor und zurück.

Wie lange sie so zubrachte, wusste sie nicht. Aber irgendwann fehlte ihr die Kraft um weiterzukämpfen und sie sank erschöpft gegen die Tür. Was die Bekannten wohl von ihr denken würden, wenn sie sie jetzt so sähen? Sie führte 10 Leute in einem schnell wachsenden Unternehmen. Sie sollte doch mit Druck umgehen können. Warum machte sie dieses kleine Geschöpf so fertig? Es konnte doch noch gar nicht viel, ausser Schlafen, Trinken, Windeln füllen und Weinen.

Sie nahm ihr Mobilephone in die Hand und begann mit vor Tränen verschwommener Sicht eine Nachricht zu tippen.

«Heute ist ein schrecklicher Tag. Ich kann nicht mehr. Wann kommst du nach Hause?»

Kurz darauf vibrierte das Telefon. Tom: «Das wird schon wieder, Schatz. Ich habe leider noch ein Notfallmeeting um halb sechs. Warte lieber nicht auf mich mit Nachtessen.»

Iris starrte leer auf die Nachricht. Sie hatte sich überwinden müssen, die Nachricht zu schreiben. Um Hilfe zu bitten, fiel ihr überhaupt nicht einfach.

Sie sah auf die Uhr. Vier Uhr. Das war nicht gut. Das hiess, dass sie noch gute 3 Stunden alleine sein würde.

Instinktiv wusste sie, dass sie dies vermeiden sollte.

Energisch wischte sie sich die Tränen von den Augen und suchte rasch das Nötige für einen Spaziergang zusammen. Zum Glück war Sommer und sie musste das schreiende Kind nicht in diverse Kleidungsschichten zwingen.

Während dem Anziehen beruhigte sich Olly ein wenig. Auch Im Kinderwagen sah es am Anfang gut aus, doch dann verzog sich sein kleines Gesichtchen wieder und er fing wieder an zu plärren. Iris schob das Sonnendach nach hinten, damit er ein bisschen etwas sehen konnte. Vielleicht lenkten ihn das im Wind schaukelnde Blätterdach ja ab. Aber heute schien nichts zu helfen. Als sie die nächste Sitzbank erreichte, liess sich Iris ergeben auf das Holz plumpsen. Sie nahm Olly heraus und wiegte ihn sachte hin und her. Sein Weinen minderte sich zu einem Wimmern.

«Ist der Kleine unglücklich?», ertönte eine Stimme. Überrascht sah Iris auf. Eine ältere Frau stand dicht vor ihr und beugte sich über den Säugling.

Bei einer anderen Person hätte Iris laut über das mangelnde Einhalten von Abstand protestiert, aber ältere Personen konnten sich manchmal Freiheiten nehmen, die man bei anderen nicht duldete.

«Weint er schon lange? Hmm, rote Wangen, hat er Fieber?» Ohne die Antwort abzuwarten legte sie ihre runzlige Hand auf die Stirn des Babys. «Oh ja. Das sind bestimmt die Zähne, meine Liebe. Es liegt nicht an dir. Du machst alles richtig.» Sie drückte Iris’ Arm und schlurfte dann davon. Zufrieden ihre Weisheit weitergegeben zu haben.

Iris starrte auf ihren Sohn.

Er war jetzt sieben Monate alt. Das mit den Zähnen konnte hinkommen.

Es liegt nicht an mir. Ich bin eine gute Mutter.

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