Sinead starrte auf ihr Spiegelbild. Die makellose Seide hing gerade an ihr hinunter. Die Ärmel waren mit filigranen Stickereien verziert und um den Halsausschnitt reihten sich schimmernde Perlen. Das Kleid war seit Generationen in der Familie und Sinead kam nicht umhin, sich zu fragen, wie ihre Vorgängerinnen sich gefühlt hatten.

Da klopfte es auf einmal an der Tür und Sinead schrak aus ihren Gedanken.

Hatte sie so viel Zeit vertrödelt, dass die Zeremonie bereits losging?

Als sie die Türe öffnete, stand ihre Mutter dort. Ohne Einladung rauschte sie in den Raum.

«Bist du fertig?», fragte sie. Ehe Sinead jedoch antworten konnte, war Margery bereits auf sie zugetreten und Kniff ihr kräftig in die Wangen.

«Du siehst viel zu blass aus und schau um Himmels Willen nicht so mürrisch drein. Es soll eine Hochzeit sein und kein Begräbnis!», herrschte sie.

Sinead ignorierte die Spitze. «Warst du glücklich, damals als du Vater geheiratet hast?»

Ihre Mutter schürzte die Lippe und meinte: «Ich war stolz, meiner Familie und meinem Land zu dienen. Eine Braut muss an ihrem Hochzeitstag nicht glücklich sein. Das ist nur in deinen kitschigen Romanen so. Sie soll ihr Schicksal annehmen und ihre Pflicht erfüllen.»

Ihre Mutter hob vielsagend die Augenbrauen. «Du weißt, doch noch, was du im Ehebett zu tun hast oder? Konrad ist schon älter, vielleicht musst du ihm also helfen, dass er …»

«Mama, genug!», fiel ihr Sinead ins Wort. An das wollte sie nun sicher nicht denken. «Ich kenn die Theorie. Aber Konrad ist so alt, Mutter. Dreissig Jahre Unterschied. Er ist älter als Vater!» Sie schauderte. «Ich glaub nicht, dass ich … Gefallen an ihm finde.»

Ihre Mutter winkte ab.

«Das ist zum Glück nicht nötig um schwanger zu werden. Lieg einfach still da und lass es über dich ergehen. Natürlich musst du dann damit rechnen, dass er sich eine Mätresse zulegt, wenn er keinen Spass im eigenen Ehebett findet. Aber das wird früher oder später sowieso geschehen. Und sobald du ihm einen Sohn geboren hast, kannst du auf ein eigenes Bett bestehen. Das habe ich auch so gemacht.»

Margery lächelte dünn. «Sobald du ein Kind hast, wird die Ehe einfacher, glaub mir.» Sie drückte kurz Sineads dünnen Oberarm und verließ den Raum wieder.

Sinead spürte Tränen in ihre Augen steigen und ein Kloß in ihrem Hals machte ihr das Atmen schwer. Erneut klopfte es. Dieses Mal war es ihr Vater. Duncan brauchte nur einen Blick auf seine Tochter zu werfen, um zu merken, wie es um ihre Verfassung stand. Er breitete die Arme aus und Sinead vergrub ihr Gesicht dankbar an seiner Brust. «Ich glaub nicht, dass ich das kann», flüsterte Sinead.

«Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen.»

«Aber das kannst du Papa! Löse die Verlobung auf!», flehte Sinead.

«Das kann ich nicht, Küken. Wir brauchen seinen Reichtum.»

Wütend stiess sich Sinead von ihm ab.

«Dann geh, ich will jetzt alleine sein!»

Duncan sah sie mit gebrochenem Herzen an, wandte sich jedoch ab und verliess den Raum.

Sinead brach weinend zusammen. Sie wusste einfach keinen Ausweg. Da fiel ihr Blick auf das Turmfenster. Es war verglast und der Öffnungsmechanismus eingerostet, aber mit ein wenig Mühe konnte sie es aufstossen. Vorsichtig linste sie in die schwindelerregende Tiefe. War das die Lösung?

Als es Zeit wurde, fanden die Diener die Turmtür verschlossen vor. Auch nach mehrmaligen Rufen meldete sich niemand und die Diener schickten besorgt nach dem König und seiner Frau. Ein Knecht wurde in den Hof geschickt, aber zum Glück blieb ihm ein grausiger Fund auf den Pflastersteinen erspart.

Als Duncan und Margery aufkreuzten, hatte sich bereits eine Menschentraube aus Wachsoldaten und Bediensteten um die Tür gebildet.

«Sinead, was soll das, mach sofort die Tür auf!», herrschte ihre Mutter.

«Küken, geht es dir gut?», fragte der König.

«Ja Papa. Ich bin wohlauf. Aber ich komm nicht raus. Ich kann Konrad nicht heiraten. Die Tür ist verbarrikadiert.»

«Du kannst doch nicht einfach da drin bleiben! Du wirst verhungern!»

«Nur wenn ihr mich lässt. Ich werde einen Flaschenzug für das Turmfenster bauen. Dann könnt ihr mir mit einem Korb Essen und Trinken hinaufschicken.»

«Du weißt, wie man einen Flaschenzug baut?», fragte Duncan verwundert. «Ich weiss noch so manches», kam die schnippische Antwort zurück.

Der König hielt es zwei Tage aus, dann schickte er Diener, den bereitstehenden Korb mit Nahrung und einigen Kantinen Wasser zu füllen. Als der Korb wieder hinunterkam, steckte eine Notiz darin. «Vielen Dank für die Verpflegung. Bitte schickt mit dem nächsten Korb auch Pergament, Tinte und eine Feder mit hoch», stand darauf.

«Was heckt sie jetzt wieder aus?», stöhnte der König, ließ die geforderten Dinge jedoch beschaffen. Tage wurden zu Wochen die wiederum in Monate übergingen. Sinead forderte immer mehr Pergament an.

Sie blieb ihr ganzes Leben lang in ihrem Turm, auch wenn sie nach dem Tod ihrer Eltern wieder hätte herunterkommen können. Sineads Bruder fuhr fort, sie via den Flaschenzug zu versorgen. Eines Tages fanden die Diener einen Pergamentfetzen zwischen den dreckigen Tellern: «Ich werde die Tür freigeben. Seid morgen, beim ersten Glockenschlag bereit.»

Wie geheißen versammelte sich der neue König, seine Gemahlin und diverse Diener vor der jahrelang verbarrikadierten Türe. Als das Schloss sich knirschend drehte, hielten sie alle den Atem an.

Sinead war inzwischen eine alte Frau. Ihr Haar war grau und ihre Haut weiss wie Porzellan, weil sie nie an der Sonne gewesen war. Sie verbeugte sich leicht vor ihrem Bruder. «Conor, es ist schön dich ein letztes Mal zu sehen. Ich spüre, dass es mit mir zu Ende geht, deswegen wollte ich dir das übergeben.» Sie machte einen Schritt zur Seite, sodass der König in den Raum sah. Darin lagen stapelweise Pergamentrollen. «Dies ist mein Lebenswerk: Die Rechte der Frau, ihr Platz in der Gesellschaft und der Familie sowie ihr unterschätztes Potential. Ich hoffe, es wird ein Standardwerk an den Universitäten. Du hast es in der Hand, Bruder.» Sie lächelte ihn an, wandte sich ab und schlurfte die Treppe herunter. Niemand sah Sinead je wieder, aber ihr Werk blieb unvergessen und tausende von Frauen dankten es ihr.

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