Der dröhnende Alarm reisst mich aus meinem Schlaf. Ich brauch nur einen Herzschlag, um mich zu orientieren. Schnell presse ich meine Lippen an Pete’s warmen Rücken, dann sind wir schon beide aus dem Bett. Unsere Uniformen liegen griffbereit. Während ich den Reissverschluss meines Oberteils hochziehe, schnappt sich Pete sein Jacket. «Pass auf dich auf!», ruft er mir von der Schwelle zu, dann ist er verschwunden. Ich greife mir meinen Speer und verlasse unsere kleine Kabine. Anstatt nach rechts wende ich mich jedoch nach links, weg von der Brücke, hin zu den Druckkammern. Mittlerweile ist der Alarm verstummt, aber das Warnlicht kreiselt weiter und spült Welle um Welle rotes Licht durch den metallenen Gang. Reisende halten sich darin auf, sodass ich viel zu langsam vorwärts komme. «Platz da!» Meine herrische Stimme und die Uniform sorgen dafür, dass sie mich eilig durchlassen. Während in der Druckkammer meine Freunde in die Anzüge steigen, sehe ich mich nach dem Kommandanten um. Über die Köpfe hinweg hält er eine Hand mit vier gestreckten Fingern. Klasse 4 also. Das ist alles was ich wissen muss. Ohne zu zögern schreite ich zum nächsten sprudelnden Einstieg und tauche mit dem Speer in der Hand hinein.

Kurz hüllt mich Schwärze ein, dann bin ich aus dem Schlot draussen und kann die düstere Unterwasserwelt sehen. Während ich mit kräftigen Schwimmzügen unter dem Rumpf des U-Boots hervorschwimme, schliessen sich meine Ohren und meine Kiemen aktivieren sich.

Das Biest jagt uns. Das U-Boot hat sich in einer Rinne versteckt und den Verfolger abgewartet. Angriff ist in diesem Fall die beste Option, die wir haben und ich bin die beste Chance für die 250 Menschen an Bord. Das Wasser ist mein Element. Was ich bin, kann ich nicht sagen. Aber die Marine hat mich zu einer Kriegerin ausgebildet, um mein volles Potential auszuschöpfen.

Vor mir zuckt das weisse Licht einer elektrischen Ladung auf. Das Wesen, das uns jagt, hat die gleiche Fähigkeit wie Aale und kann Elektrizität erzeugen. Das U-Boot liegt nun schräg unter mir. Vor mir erstreckt sich eine öde Steinlandschaft. Plötzlich blendet mich Licht. Heftig blinzelnd versuche ich wieder eine klare Sicht zu bekommen. Als sich meine Augen erneut an die düstere Umgebung gewöhnt haben, erkenne ich den Schatten des Monsters gut 50 Meter vor mir. Es verharrt, beobachtet. Die Ladungen blitzen an seinem moränenartigen Körper entlang auf. Mir fällt auf wie riesig das Ding ist. Nicht umsonst ist es als Klasse 4 eingestuft worden.

Ich entscheide mich frontal anzugreifen. Mein kleiner Speer sieht mickrig aus. Aber ich weiss, welche Macht darin steckt. Mit kräftigen Beinbewegungen schiesse ich vorwärts. Ich hole aus und mein Finger ist bereits am Knopf, der die explosive Ladung des Speers scharf macht, als das Monster plötzlich näher kommt. Sein Kopf ist riesig. Ich bin ungefähr so gross, wie einer der gewaltigen Fangzähne, die aus seiner verhornten Schnauze ragen. Wie bei einem Hai besitzt es mehrere Reihen davon. Nicht der Schlund, sondern die seitlich liegenden Augen reissen mich jedoch in Ihren Bann. Es sind die Augen eines intelligenten Wesens. Sie erinnern an Schlangenaugen, mit geschlitzten Pupillen und ich sehe, dass auch in den Kapillarmuskeln, winzige elektrische Ladungen aufblitzen. Ich höre keine Stimme. Stattdessen spüre ich, wie sich etwas Fremdes in meine Gedanken drängt. Ich halte mitten in der Bewegung inne, den Finger verkrampft auf dem Abzug haltend. Es ist eine beängstigende Erfahrung, nicht mehr Herr seiner eigenen Gedanken zu sein. Mein Kopf ist wie zweigeteilt. Auf der einen Seite will ich nicht mehr angreifen und merke, wie ich langsam den Speer senke. Auf der anderen Seite versuche ich gegen diesen Impuls anzukämpfen und frage mich, warum es mir nicht gelingt. Ein weiterer Gedanke drängt sich mir auf. Es sind die Bilder einer wunderschönen Stadt, die in einen Abhang hineingebaut wurde. Ich brauche eine Weile um zu begreifen, was an dem Bild nicht stimmt. Dann realisiere ich, dass sich die Stadt unter Wasser befindet. Und sind diese kleine Gestalten wirklich Menschen? Mir fällt auf, dass sie keine Anzüge tragen. Dieser Umstand lässt nur ein Schluss zu: Diese Menschen sind wie ich.

Bestätigung überrollt mich. In den riesigen Augen knistert begeistert die Energie. Da schiesst etwas an mir vorbei. Es gibt nur ein Objekt, das so schnell durch das Wasser pflügt und dabei diesen verräterischen Schweif aus Luftblasen nach sich zieht: ein Torpedo.

Das Bild der Stadt hat mich verstört und meine Verstand begreift nur langsam die Tragweite dieser Offenbarung. Zum Glück brauche ich aber meine Gedanken nicht, um auf den Torpedo zu reagieren. Die Kriegerin übernimmt die Kontrolle über meinen Körper, lässt mich den Arm heben und den Speer werfen. Der Speerkopf trifft den hinteren Teil des Torpedos. Das alles geschieht innerhalb eines Herzschlages. Instinktiv krümme ich mich zu einer Kugel zusammen, denn im offenen Wasser gibt es nichts, das mich von der eintretenden Schockwelle schützen kann. Die Explosion ist gleissend hell. Das letzte was ich sehe, ist der mächtige Kopf des Monsters, dann verschwindet die Unterwasserwelt in einem allesverschlingenden Weiss. Die Schockwelle trifft mich wie ein Hammerschlag und wirbelt mich herum wie ein Spielball. Mit volle Wucht krache ich gegen etwas Hartes.

Ich komme im Trockenen wieder zu mir. Stöhnend wende ich mich vom Licht der trostlosen Glühbirne ab. Mein Schädel pocht im gleichen Takt wie mein Herz. «Schatz, es ist alles gut. Du bist in Sicherheit!», erklingt Pete’s Stimme. Mit ihr kehren meine Erinnerungen zurück. Das Monster, der Torpedo, die Explosion. Ich grabsche nach seinem Unterarm und kralle mich darin fest. «Hat es überlebt?»

«Das Biest? Nein, zum Glück nicht.»

Zuerst droht mich eine unendlich grosse Traurigkeit zu überwältigen. Das Wesen hat etwas über meine Herkunft gewusst. Aber jetzt ist es tot und mit ihm die Chance, Licht in meine dunkle Vergangenheit zu bringen. Eine einzelne Träne kullert mir über die Wange. Aber dann realisiere ich, dass dies nicht ein Ende sein muss, sondern auch ein Anfang sein kann. Der Anfang zur Suche nach meinen Wurzeln.