Umsichtig setze ich den nächsten Stich. Es ist eine Außennaht. Die wird man sehen. Also gebe ich mir besonders viel Mühe. Natürlich gebe ich mir auch Mühe, bei Innennähten. Wäre ja noch schöner, wenn der Herr sein Jackett auszieht und dort ein Stich aus der Reihe tanzt. Aber natürlich weiß ich auch, dass niemand so genau hinschaut. Außer der Herr vielleicht, der den Anzug in Auftrag gegeben hat. Er hat schließlich eine ansehnliche Menge an Geld dafür bezahlt. Dann wiederum, hat er auf mich nicht wie ein Mann gewirkt, der solchen Dingen allzu viel Aufmerksamkeit zuwendet. Eher wie der Mensch, der darauf vertraut, dass wenn es viel kostet, es auch viel Wert ist.

Während ich nähe, sehe ich ihn vor mir.

Der stattliche Herr im mittleren Alter. Ich kenne ihn ja nicht, aber sein Auftrag, hat einen Charakter und ich tendieren dazu, diesen Charakter auf meine Kunden zu übertragen.

Mit seinem Geld, dass er wahrscheinlich als Vorsitzender einer Versicherung verdient, kauft er sich Dinge von Qualität. Nein falsch, er lässt sich Dinge von Qualität anfertigen. 

So wie bei mir diesen Anzug.

Wie der leichte Lilafarbton, aus dem die Seidenfütterung des Jacketts besteht, muss alles in seinem Leben eine gewisse Exklusivität mit sich führen. Es soll nicht zu sehr auffallen, aber trotzdem, wenn es den auffällt ein kleiner Hingucker sein. 

So wie seine Frau. Langes, gepflegtes, blondes Haar. Perfekt geschnitten, nicht hochgesteckt oder in einem Pferdeschwanz gehalten. Damit es natürlich wirkt. Die Augen sind blau – oder nein – braun. Weil blond und blauäugig, doch etwas zu langweilig ist und außerdem zu viele Witze mit sich bringt, die er nicht hören will. Zumindest nicht über seine Frau. 

Sie macht auch Karriere. Nicht so wie er. Aber sie ist eine leitende Persönlichkeit in einem Unternehmen. In einem Kreativbereich. Dort wo die weibliche Intuition gefragt ist. Nicht, dass sie davon wirklich viel hätte. Denn warum wäre sie sonst mit ihm zusammen. Aber irgendwie ist sie trotzdem an den Job gekommen – viel Fantasie sich da die Gründe auszumalen braucht es nicht – und ist damit ins Beuteschema geraten.

Und sie ist ja auch schön. Sie war es damals und ist es heute noch.

Und er hat sie ja auch tatsächlich geliebt.

Das sagt er sich zumindest.

Gut, womöglich hat er auch nur ihr Aussehen und ihren Stand geliebt. Das was sie aus ihm macht. Das tut sie heute noch, aber heute ist das ja eben bereits der Fall. Sie hat ihn geheiratet und ist ihm verpflichtet und genauso verpflichtend ist der Sex, denn eigentlich hätte er gerne Kinder. Genauer genommen ein Kind. Einen Sohn. Einen Erben. Eigentlich passt das Kind nicht in seine Wohnung … oder in seine Pläne. Dann wiederum behindert es seine Pläne weniger, als es diese in Zukunft fördern könnte.

Und es ist ein Thema, über das er dann mit all seinen Untergebenen reden könnte, die alle schon Kinder haben. Als Ausrede für eine schlechtere Leistung will er es sicher nicht. Darum, dass er immer noch seine zweihundert Prozent leisten kann, wie jetzt, soll seine Frau dann sorgen. Kinder sind Frauensache. Das ist ja klar. Nur, dass seine Frau keine Kinder will, das passt nicht. Vielleicht auch nur, dass sie ihm das so offen sagt. So eine aufmüpfige Person hat er schließlich nicht geheiratet.

Für das Freche, aufsässige und etwas außer Kontrolle geratene hat er schließlich seine Geliebte. Sie kann er nicht ganz im Zaum halten und trotzdem hat er sie irgendwie an der Leine. Gerade so, dass sie ihm sein perfektes Leben nicht kaputt machen kann. Und trotzdem gibt sie ihm diesen gewissen Reiz vom Unbekannten. Die Idee von Wagemut und Abenteuer. Das Erforschen von Neuem.

So wie er sich das früher immer erträumt hatte.

Nun, nicht ganz so. Die Erforschung vom weiblichen Körper und den diversen Praktiken zu denen seine Frau etwas zu brav ist – denkt er zumindest – lässt sich kaum gleichsetzen mit der Erforschung von Afrika, von der er als Kind geträumt hat.

Wie einer seiner Helden aus den Comicbüchern, hatte er sich durch den Jungle schlagen wollen und gegen den wilden Tiger kämpfen. Bevor er sich verletzt und angeschlagen zu einer alten Ruinenstadt kämpft. Dort hätten ihn die Einheimischen gefunden. Ihn aufgepäppelt und von ihren verschollenen Schätze erzählt und ihm damit den letzten Hinweis gegeben, damit er eben jene Schätze hätte entdecken können. Noch nicht ganz genesen, aber tapfer und wagemutig, hätte er sich durch die engen Gänge der Ruinen gekämpft. Er hätte alle Fallen überlistet, die böses Rivalen ausgetrickst und das Sägeblatt vor dem Schatz in letzter Sekunde unschädlich gemacht, bevor er das lange verschollene Artefakt hätte an sich nehmen können.

Dieses hätte er dann dem Museum zu Hause übergeben. Das Geld für den Schatz hätte er nicht haben wollen, das Abenteuer war der Lohn und während die ganze Welt noch gestaunt hätte, wäre er schon auf der nächsten wilden Jagd.

Sein Vater hatte ihn dann auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Die Ruinen lagen in Südamerika und nicht in Afrika. Die Einheimischen waren wild und ganz bestimmt nicht freundlich und wenn sie von einem Schatz wüssten, erzählen sie bestimmt nicht einem Fremden davon. Sie behalten ihn für sich selbst. Fallen wäre schon längst nicht mehr aktiv. Die einzige wirkliche Falle war sowieso unter den Steinen begraben zu werden, weil diese durch sein Einwirken aus ihrem labilen Gleichgewicht geraten sind. Ein Sägeblatt würde es schon gar nicht geben. Rivalen waren wahrscheinlicher, noch wahrscheinlich aber, dass er zu diesen gehörte. Man musste schließlich auch noch bezahlt werden. Den Lohn müsste er also auch einstecken. Sonst würde er auf der Gosse landen und das würde sein Vater nicht erlauben.

Also hatte er sich ein ordentliches Studium ausgewählt und sich ins Zeug gelegt, damit er Chancen auf einen ordentlichen Job bekam. Das hatte er dann auch geschafft. Er war hervorragend darin geworden, den kleinen, abenteuerlustigen Jungen in einem Jackett mit lila Seidenfutter zu verstecken.

Ich setzte den letzten Stich, lächle und bin etwas traurig. Vielleicht hat meine Fantasie für den nächsten Kunden eine schönere Geschichte.