Unangenehm wehte der Wind durch die Straßen. Susan war sich Wind gewohnt. Es windete oft und der der Luftzug in den Gassen der großen Stadt konnte bissig sein, gerade in den Abendstunden. Doch das war es nicht, was ihn so widerwärtig machte. Es war der beißende Gestank. Der Geruch nach Tod und Verwesung. Der Rauch, der brennend nach versengtem Haar stank. Dazu Unrat, Urin, Dreck. Eine hässliche Mischung, die sich niemand vorstellen konnte, der es nicht selbst erlebt hatte. Man wollte sich übergeben und doch war alles bereits so abgestumpft, dass man nicht das Gefühl noch den Brechreiz fand, um es wirklich zu tun. Es gab auch Wichtigeres zu tun. Helfen. Die Menschen brauchten Hilfe. In allen Belangen. Jeder brauchte Hilfe.

Außer Susan.

Kurz fragte sie sich, warum gerade sie verschont geblieben war.

In der Nacht waren die Flieger gekommen und hatten die Bomben abgeworfen. Susan war aufgewacht. Erschrocken, verängstigt, aber nicht unvorbereitet. Es war zu erwarten gewesen, dass es irgendwann passierte. Man hatte damit rechnen müssen. Sie warne im Krieg. Natürlich gab es Angriffe.

Mit den Bomben hatte es angefangen, doch die Bomben waren nicht das Problem für die Stadt gewesen. Denn nach den Bomben war das Feuer gekommen. Der Ostwind hatte die Flammen aufgegriffen und schneller verteilt, denn irgendjemand es hatte löschen können.

Ihr Haus war verschont geblieben. Ob durch ein Wunder oder andere Umstände blieb dahin gestellt, doch ihr Haus stand. Ihr ging es gut. Familie hatte sie keine, um die sich kümmern musste. Freunde?

Ein bitteres Lachen entrann ihrer Kehle beim Gedanken an Freude.

Als die Bomben gefallen waren, hatte sie gewartet. Als es schließlich still geworden war, hatte sie sich aufgemacht, um zu helfen. Sie war eine ausgebildete Ärztin. Möglich, dass ihr die Praxis fehlte. Möglich, dass ihr die Leute nicht mehr trauten, nach allem, was passiert war, aber sie war eine verfluchte Ärztin. Doch man hatte sie abgefangen. Man hatte sie geholt, man hatte ihr einen Auftrag gegeben und man hatte sie eingesperrt mit ihrer Aufgabe, nur ums zu kurz darauf wieder zu holen. Einmal mehr hatte man ihre Stimme missbraucht für die Lügen des Krieges.

Aber nicht mehr mit ihr! Es war vorbei. Dies waren ihre letzten Lügen gewesen. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Worte weiteres Unheil anrichteten!

Mit dem Gedanken streifte sie den Kittel über, den man ihr in die Finger gedrückt hatte und ging ins Feldlazarett, das mitten in den Straßen aufgestellt worden war. Ohne langes Zögern ließ sie sich in die Situation einweisen und begann der Arbeit nachzugehen, der sie ihr ganzes Leben entgegen gestrebt hatte. Sie begann zu helfen, mit dem guten Gewissen, dass man sie nicht finden würde.

Niemand würde eine alte Ärztin suchen. Niemand würde eine aufopfernde Frau suchen, die in einfachen Verhältnissen lebte. Alle würden sie die junge, aufstrebende Politikerin suchen, die mit ihren Worten eine ganze Welt umgarnen konnte. Eine Frau die in Luxus lebte und alles und jeden für diesen Luxus hingab. Eine Frau, die sich nicht um Moral scherte. Eine Frau, die sich nicht mit den einfachen Leuten abgeben würde.

Sie hatte alles hinter sich gelassen. Nach dem sie ihrer Rede abgeliefert hatte, war sie geflohnen. Sie kannte Leute, noch aus der Schule. Leute, die sie eignetlich nicht leiden konnte. Aber Leute, die ihr helfen konnten. Leute, die andere Mittel besaßen und auf diese Mittel griff sie nun zurück. Solange wie es nötig war.

Eine Stimme in ihrem Kopf sagte, sie würde nie zurückkehren können. Eine andere Stimme meinte, dass sie nie zurückkehren wollte. Was wollte sie mit alle dem Ruhm, dem Glanz und dem Geld? Er brachte ihr nichts. Er war nur ein Abklatsch vom Leben, dass sie sich wünschte. Tatsächlich gab es nur wenige Dinge, die sich vorstellen konnte überhaupt zu vermissen und nur eine Person.

Tom. Tom würde sie vermissen. Nicht weil er wahnsinnig charmant war. Nicht weil er ein besonders guter Freund gewesen war. Überhaupt nicht, eigentlich. Nicht weil er liebenswürdig oder herzlich war. Nicht weil er gutmütig war oder ihr viel gegeben hatte. Aber er war immer da gewesen. Egal was passiert war. Egal zu welcher Zeit. Tom, war immer da gewesen. Seit ihrer Kindheit, war er ein Stützpfeiler gewesen. Nun war er fort. Durch ihrer eigene Entscheidung. Das Feuer hatte ihn genommen, sagte sie sich.

Er war mit all den anderen Dingen im glühenden Rot, der brennenden Stadt zum Opfer gefallen.

Nicht wirklich natürlich, doch für Susan nun unerreichbar.