Jenny öffnete den Kühlschrank und verengte die Augen. Sie sah es, noch bevor sie überhaupt ihre Hand ausstreckte. Jemand hatte sich wieder daran vergriffen! Mit einer geübten Bewegung nahm sie die Flasche mit Salatsauce heraus und begutachtete sie. Na, toll, das reichte nicht einmal mehr für eine Kinderportion! Bestimmt war es wieder dieser Simon-Baker-Typ (Tina hatte ihn so genannt, nicht sie) gewesen, der schien nämlich eine gewisse Freude daran zu haben, den anderen ihr Zeugs zu klauen.

Gerade, als sie sich umdrehte, kam er fröhlich pfeifend um die Ecke.

«Hi», sagte er.

«Hi.»

Er knallte seine Plastikbox mit Salat aus dem Supermarkt auf den Tisch, schritt an Jenny vorbei und öffnete den Kühlschrank.

«Suchst du das hier?», fragte Jenny und schüttelte demonstrativ die Flasche, obwohl praktisch nichts mehr drin war.

Manuel blickte auf. «Nein.» Er wandte sich wieder dem Kühlschrank zu und zog schliesslich eine Packung Mozzarella-Kügelchen heraus.

«Du hast also nicht meine Salatsauce geklaut?», setzte Jenny nach.

«Nein, dieses Mal wirklich nicht», antwortete er.

Er gab es also zu! Was für ein unverfrorener Frechdachs er doch war! Tina mochte das ja süss finden, aber Jenny fand es einfach nur daneben.

«Du klaust immer meine Sauce!», beharrte sie.

«Ja, aber dieses Mal nicht», gab er zurück. «Wirklich. Beruhige dich, Mensch, es ist eine Salatsauce!»

«Es ist meine Salatsauce!»

Jenny war überzeugt davon, dass er sie auf den Arm nehmen wollte. So etwas passierte erst, seit er hier war. Davor hatte noch nie jemand irgendetwas aus dem Bürokühlschrank geklaut. Ausser einmal, als eine Kuchenform verschwunden war, die Form wohlgemerkt, nicht der Kuchen. Später hatte sich herausgestellt, dass jemand es gut gemeint und nach dem Abwasch einer Kollegin auf den Tisch gestellt hatte, die aber nicht die Besitzerin gewesen war. Die Kuchenform hatte ihren Weg zur rechtmässigen Besitzerin, Sophie nämlich, zurückgefunden und alles war gut gewesen.

Seit Manuel seinen Job in dieser Firma angetreten hatte, verschwand jedoch nicht nur Salatsauce. Kürzlich war Sophie ein Schokopudding abhanden gekommen. Bis heute wusste niemand, wer es gewesen war, doch Manuel hatte bestimmt auch dort seine langen Finger im Spiel gehabt.

Manuel richtete gemächlich seinen Salat mit den Mozzarella-Kügelchen an. Irgendwie stand auf einmal eine Salatsauce neben ihm auf dem Tisch. Bestimmt hatte er die auch einfach entwendet, ohne zu fragen!

Jenny ging hinüber und sah ihn eindringlich an. «Jedenfalls hätte ich gerne einen Ersatz.»

«Kriegst du später, keine Sorge», sagte er gelassen.

«Ich muss aber jetzt essen», entgegnete Jenny. Dieser Typ war echt unmöglich.

«Jetzt mach mal nicht so einen Stress», sagte er ein wenig ungehalten.

In diesem Moment kam Sophie in die Küche geschwebt. Schwungvoll warf sie ihr Tupperware auf den Tisch, surrte zum Schrank, um eine Gabel herauszunehmen und aktivierte die Mikrowelle. Sie öffnete den Kühlschrank und auf der Stelle machte sich unverhohlener Ärger auf ihrem Gesicht breit.

«Wer hat meine Tomatensauce geklaut?», sagte sie anklagend, während sie sich fragend zu Manuel umdrehte.

Er hob abwehrend die Hände. «Warum beschuldigen eigentlich alle mich?»

«Weil du es meistens bist, deswegen», sagte Sophie bestimmt.

«Ganz genau», schaltete Jenny sich ein. Das war ihre Chance. «Und deshalb bewegst du jetzt deinen

Hintern und bringst Ersatz und zwar sofort.»

«Das wird leider schwierig», sagte Sophie. «Meine war selbstgemacht.»

«Hey, Leute, wirklich, ich war’s nicht», verteidigte Manuel sich. «Jenny, ich bringe dir deine Sauce, aber das da war ich echt nicht. Langsam wird’s unfair.»

Bevor auch nur eine der beiden Frauen antworten konnte, erschien Tinas Kopf im Durchgang. «Braucht jemand etwas vom Supermarkt? Der Chef hat mal wieder meinen Schokovorrat geplündert.»

«Salatsauce», sagte Jenny und schwenkte die Flasche in der Luft.

«Geht klar.»

«Tomatensauce, aber nicht die billige», reihte Sophie sich ein.

Kaum war Tina weg, kamen die Jungs von der Architekturabteilung um die Ecke.

«Hallo zusammen.»

«Hallo.»

«Hey, Jungs.»

«Was ist denn hier los», sagte Jeremy, während er eine Flasche Tomatensauce auf den Tisch stellte.

Jenny und Sophie sahen sich an. Manuel warf ihnen beiden einen vielsagenden Blick zu.

«Was ist das?», fragte Jenny so unschuldig wie möglich.

«Was, die Sauce?», antwortete Jeremy freigiebig. «Die stand seit Tagen im Kühlschrank herum. War nicht angeschrieben, schien also niemandem zu gehören, also dachte ich, ich rette die, bevor sie schlecht wird …»

«Sieh dir mal den Deckel an», sagte Sophie geladen. «Sie ihn dir genau an.»

Jeremy kippte die Flasche ein wenig, um zu lesen, was auf dem Deckel stand, doch Jenny hatte es schon von weitem erkannt. Auf dem weissen Kunststoff prangten in dicker, wasserfester Schrift die Initialen SK. Wie Sophie Kampfer.