Regen tropft von der Dachrinne runter, während Layla aus dem Fenster schaut. Es scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit sie das letzte Mal zu Hause war. Die Aussicht auf die Berge ist ihr vertraut, auch die Unsicherheit in dieser Gegend überkommt sie wieder. Ein dumpfes Geräusch reisst Layla aus ihren Gedanken.

»Kannst Du nicht etwas aufpassen…«

Aisha, ihre kleine Schwester schaut sie mit grossen Augen an. Die Vase samt Blumen ist auf den Boden gefallen. Layla versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Warum nur hat sie sich überreden lassen wieder hierher zurückzukehren. Sie hebt eine Scherbe nach der anderen wieder auf. Plötzlich fällt es ihr wieder ein. Sie war noch ein kleines Kind, aber es fällt ihr wie Schuppen von den Augen.

»Entschuldige mich!«

Layla rennt aus der Küche, vorbei an den Ziegen ihres Onkels und weiter über die blühenden, von Regen übersäten Hügel. Sie erinnert sich, als ob es gestern war. Ihre Erinnerungen überschlagen sich und Ihre Kleidung tränkt sich mit Regenwasser. Die nassen Kleider kleben an ihren Körper. Sie hebt den Rock, um weiterrennen zu können. Eine tiefe Schnittwunde an ihrer rechten Hand lässt Blut auf ihr Rock tropfen.

 Nach einer Weile erreicht sie den Waldrand und läuft weiter. Weiter in den Wald hinein. Die Dämmerung setzt ein. Äste knacken unter ihren Füssen.

»Layla!«, hallt es durch den Wald.

Layla bleibt stehen und lauscht in den Wald hinein. Sie hört die Schritte ihrer kleinen Schwester näher kommen. Sie dreht sich um und Aisha steht ausser Atem hinter ihr.

»Wo rennst Du denn hin?«, fragt Aisha mit ihren neugierigen, braunen Augen.

»Geh nach Hause und warte dort auf mich!« entgegnet Layla angespannt.

Aisha macht keine Anstalten nach Hause zu gehen. Natürlich nicht. Im Gegenteil.

»Du kennst mich. Ich werde Dich nicht hier alleine lassen.«

Layla blickt ihrer kleinen Schwester in die Augen. Sie war schon immer die Mutigere von ihnen. Jedoch ist sich Layla nicht sicher, ob sie ihrer Schwester das antun kann, sie war noch ein Baby, als es geschah.

Nach einer Pause nickt sie ihrer kleinen Schwester zu und läuft weiter. Sie betreten die Lichtung, von der Aisha sich geschworen hatte, sie nie wieder zu betreten. Die ganzen Jahre hatte sie es verdrängt. Nicht versucht daran zu denken. Doch heute nach mehr als 20 Jahren kann sie sich wieder daran erinnern. Nur zu gut erinnert sie sich an die Ereignisse und an das, was ihr Bruder für das Familiengold und die Flucht in den Westen getan hatte.

Der Stein vor der grossen Linde steht noch an derselben Stelle. Layla fällt auf die Knie und fängt an zu graben, bis eine Hand zum Vorschein kommt. Nur noch die Knochen sind übrig. Ein Armreif mit den Initialen A.E. umschliesst das Handgelenk. Das Armband ihrer Mutter. Layla schaut ihre kleine Schwester an. Stille umgibt sie. Nur der Gesang der Vögel ertönt noch aus dem Wald.