Ein Blick über die Schultern verrät Ällin, dass sie ihre Verfolger abgehängt hat. Sie ist zu unvorsichtig gewesen beim Versuch an den Wachen vor den Toren des Schlosses vorbeizukommen und ist entdeckt worden. Dieses Mal ist es knapp gewesen. Zu knapp.

Die Wärme, die von ihrem Pferd Marx ausgeht, hält sie bei dieser Eiseskälte warm. Der Schneesturm bläst ihr ins Gesicht, während Marx elegant durch den Wald zurück zu ihrem Lager galoppiert. Das Einzige was sie jetzt noch hört, ist das Heulen des Windes und das Knirschen des Schnees unter den Hufen von Marx.

Im Lager angekommen bringt Ällin ihr Pferd in seinen Unterstellplatz und trocknet ihn mit einem Tuch. Erleichtert, dass nichts passiert ist, streut Ällin frisches Heu in seinen Trog. Marx freut sich ersichtlich darüber und macht sich über sein Futter her. Der Wind bläst durch den offenen Unterstellplatz und die Kälte geht Ällin bis in die Knochen.

Seit König Vilgot das Reich Lavia mit Hilfe der Magier von Al unter seine Gewalt gebracht hat, sind alle gezwungen sich zu verkleiden, Masken zu tragen und ihr wahres Ich zu verbergen. Ällin und einem paar Dutzend ist die Flucht nach der grossen Schlacht in die Wälder von Lavia gelungen.

Plötzlich wird Ällin von einer mageren Gestalt in einem langen violetten Umhang aus ihren Gedanken gerissen.

»Grossmeister Engelhart! Ich habe Euch hier unten nicht erwartet.«

Der Grossmeister lächelt Ällin freundlich unter seinem langen, grauen Bart an.

»Ich wollte nur ein bisschen die alten Beine vertreten. Habe den ganzen Tag an deiner neuen Maske gearbeitet. Morgen früh ist sie fertig.«

Grossmeister Engelhart schaut Ällin tief in die Augen und fährt fort:

»Wie Du bei deinem letzten Versuch herausgefunden hast, trägt das Böse Masken. Gibt sich gern als jemand anderes aus, um unser Vertrauen zu erschleichen. Es versteckt sich und ist auf den ersten Blick für uns nicht erkennbar. Lass Dich nicht von ihm täuschen! Sei auf der Hut, wenn Du ein zweites Mal in das Schloss gehst!«

Ällin nickt verlegen. In der Gegenwart von Grossmeister Engelhart fühlt sie sich wie ein kleines Kind. Ein Kind, das gerade dabei ertappt wurde, wie es etwas Verbotenes gemacht hat.

»Morgen werde ich einen neuen Versuch unternehmen und uns zurückbringen, was uns gehört.«, entgegnet sie ihm.

»So sei es.« Mit diesen Worten verabschiedet sich Meister Engelhart und verschwindet im Schneegestöber. 

Als die ersten Sonnenstrahlen ins Gesicht von Ällin fallen, steht sie auf und zieht sich ihre gelbe Robe an. Noch etwas verschlafen kämmt sie sich ihre Haare und knüpft sie zu einem Zopf zusammen. Voller Energie tritt sie vor die Tür und bemerkt ein kleines Päckchen am Boden ihres Hauseingangs. Sie hebt es behutsam auf und faltet es auseinander. Eine goldene Maske kommt unter dem Einband hervor. Mit vielen liebevollen Verzierungen ist sie viel schöner als die Vorherigen, die Ällin besessen hat.

Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder in ihr Haus zurück. Sie streift ihre Robe ab und zieht ihre graue Tunika an, legt den ledernen Gürtel um und befestigt die Gürteltasche mit ihrem Dolch an ihre Hüfte. Sie tritt vor den Spiegel und legt die goldene Maske an.

Verkleidet wie die neuen Bürger des Reichs steigt sie auf ihr Schimmel Marx und reitet bis zu den Toren des Schlosses. Niemand soll sie im Schloss erkennen. Niemand soll wissen, dass sie die Tochter des wahren, des gefallenen Königs von Lavia ist.

An den Toren des Schlosses angekommen, reitet Ällin angespannt an den Wachen vorbei. Beruhigt stellt sie fest, dass die Maske ihren Zweck erfüllt. Als sie die lange Strasse zum Hauptgebäude runter reitet, begegnet sie vielen Menschen, die wie sie, eine Maske tragen. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Nur zu gern wüsste Ällin, ob sie jemanden von früher kennt.

Am Hauptgebäude angekommen, steigt Ällin vom Pferd und tritt ein. Zielstrebig nimmt sie die Treppen zum Wohnbereich des Königs.

Behutsam öffnet sie die Tür und gleitet in den Raum hinein. In der Mitte des Raums auf einem alten Buch ist sie, die magische Reichsfeder mit dem Wappen ihrer Familie. Mit leisen Schritten nähert sich Ällin ihrem Ziel. Mit zittrigen Fingern greift sie nach der Feder und lässt sie behutsam in die Ledertasche gleiten.

»Wen haben wir den hier?«, zischt es hinter Ällin.

Erschrocken dreht sie sich um und König Vilgot steht nur einen Schritt von ihr entfernt. Wie in Trance greift sie zum Dolch und sticht zu.

König Vilgot beugt sich nach vorne und versucht nach der Ledertasche mit der Feder zu greifen. Bereits einmal hat die Feder geholfen, seine Wunden nach dem Krieg zu heilen. Ein zweites Mal wird Ällin nicht zulassen, dass die magische Reichsfeder dem König das Leben rettet.

Sie tritt nach vorne und reisst ihm die Maske vom Gesicht. Vor Schmerzen krümmend fällt König Vilgot zu Boden.

Ällin stösst einen lauten Schrei aus und verliert das Gleichgewicht. Die Maske des Königs fällt ihr aus der Hand und zerbirst am Boden.

Unsanft landet sie mit ihrem Hintern neben der Maske auf den kalten Steinboden.

Jahrelang hat die Maske das verborgen, was niemand wissen darf. König Vilgot ist ein Wesen ohne Gesicht. Jemanden der sein wahres Ich durch die ganzen Verkleidungen in seinem Leben verloren hat.