Als Yannik an einer Hauswand im hohen Schnee kauerte und am ganzen Körper zitterte, wünschte er sich nur noch, tot zu sein.

Es war nun genau drei Wochen her, seit er von Zuhause weggelaufen war. Drei Wochen, in denen er alles versucht hatte, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Es war fast genau so kalt wie an jenem Tag, als er einen letzten Blick auf das Haus seiner Eltern geworfen hatte; die Hände zittrig, die Augen tränennass. Ein lächerlicher, nichtssagender Brief hatte er auf dem Küchentisch zurückgelassen. Es tut mir Leid, war alles, was er in seiner Eile auf einem Stück Papier hatte hinkribbeln können. Bitte sucht mich nicht. Es ist besser so.

Yannik verdrängte die Erinnerung aus seinem Kopf. Sie waren schmerzhaft. Sie zerrissen ihn innerlich und brachten ihn jedes Mal wieder an den Ort zurück, an den er nie wieder zurückkehren wollte.

Der Wind pfiff durch die engen Gassen der Stadt und wirbelte den Schnee hoch. Der Himmel war bewölkt, überdeckt von einer grauen Masse aus Trostlosigkeit, und die Menschen huschten in dicken Wintermänteln an Yannik vorbei, nicht viel mehr als schemenhafte Umrisse. Kaum jemand schenkte dem blassen Jungen, der an einer steinernen Hausmauer lehnte und den Reissverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hochgezogen hatte, Beachtung. In ihren Augen war er nur einer von vielen; ein Ausreisser, ein Obdachloser, ein weiterer Drogenabhängiger, der diese Nacht erfrieren würde. Sie hatten keine Zeit, sich neben all ihren eigenen Problemen auch noch um ihn zu kümmern.

Yannik nahm es ihnen nicht übel. Genau genommen war er froh, dass ihn niemand ansprach. Was hätte er schon sagen sollen? Dass er ein Freak war? Ein Monster? Ein Mörderer? Dass er eine tickende Zeitbombe war, die jeden Moment wieder hochgehen konnte?

Alles davon war wahr, aber nichts wäre auch nur annährend an die Wahrheit herangekommen. Sie war etwas, das Yannik bis heute nicht verstanden hatte und vielleicht auch nie verstehen würde. Sie war grausam und kalt, viel kälter noch als der Wind, der seine Finger hatte blau anlaufen lassen. Und sie war der Grund, dass er überhaupt hier sass, in einer Stadt, die er nicht kannte, hungrig und frierend und allein.

Er wusste nicht, wie lange er sich schon hingekauert hatte, als der Sturm plötzlich nachliess, aber es mussten einige Stunden vergangen sein. Die Gassen waren leer und die Strassenlampen schimmerten matt durch die Dunkelheit, die eingesetzt hatte. Der Nebel verblasste und hinterliess eine feine Schicht aus Eis auf dem Asphalt. Als Yannik aufsah, bemerkte er erst, wie steif seine Glieder geworden waren. Sein Gesicht und seine Finger konnte er nicht mehr spüren. Der Atem kam in kleinen weissen Wolken aus seinem Mund; ein Beweis dafür, dass er immer noch lebte.

Nicht, dass der Tod überhaupt eine Option gewesen wäre.

Langsam kam Yannik auf die Beine. Jede Bewegung sandte Wellen aus Schmerz seinen Körper hinauf, aber er ignorierte sie. Die Spitzen seiner Schuhe waren eingefroren und knirschten bei jedem Schritt. Keuchend stützte er sich an der Hauswand ab. Er konnte hier nicht bleiben. Er brauchte etwas zu Essen und musste sich dringend irgendwo aufwärmen. Nicht seinetwegen – nein. Yannik war es schon lange egal geworden, was mit ihm geschah. Der einzige Grund, weshalb er am Leben blieb, war Angst. Angst vor sich selbst und den Dingen, die mit ihm geschehen würden, wenn er an seine Grenzen stiess.

Also kämpfte er sich vorwärts. Jeder Schritt war eine Überwindung. Seine Füsse schmerzten. Seine Knie zitterten. Er war so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte; und innerlich verfluchte er sich dafür, dass er es überhaupt soweit hatte kommen lassen.

Er hatte schon fast das Ende der Gasse erreicht, als er sie sah. Drei Jungs in seinem Alter stolperten mit lautem Gelächter über die Strasse. Sie waren offensichtlich betrunken und schwankten bei jeder Bewegung gefährlich hin und her.

Yannik fluchte leise. Er wollte umdrehen, zurück in die schützenden Schatten der Hauswände, aber es war bereits zu spät. Der kleinste der Jungs hatte ihn entdeckt und war nun mitten auf der Strasse stehen geblieben. Er stiess seinen Kumpel, ein hochgewachsener junger Mann mit dunklen Haaren, mit dem Ellbogen an.

»Hey!«, raunte er ihm zu. »Schau dir den Trottel da drüben mal an!«
Nun waren alle drei stehen geblieben. Ihre Blicke hingen an Yannik, der – immer noch an der Hauswand abgestützt – verzweifel versuchte, sich zurückzuziehen.

»He, du da!«, rief nun der Dritte. Er trug trotz des Wetters nicht mehr als eine dunkle Lederjacke und durchnässte Turnschuhe und musterte Yannik mit einem belustigenden Ausdruck auf dem Gesicht. »Hast du dich verlaufen?«
»Haut ab!«, gab Yannik zurück. Seine Stimme klang zittrig und war kaum hörbar. Die Betrunkenen lachten bloss.

»’nen schönen Rucksack hast du da«, bemerkte der Dunkelhaarige. »Stört’s dich, wenn wir uns den mal ansehn?«

Yannik erstarrte. Er umklammerte die Riemen seines Rucksacks. »Verschwindet einfach«, sagte er. »Ich will keinen Streit, okay?«

Wieder lachten sie alle drei. Der Kleine kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. »Ich wette, in dem Ding ist ‘ne Menge Kohle drin, so fett wie der ist«, sagte er. »Na, hast du drin etwa etwas zu verbergen, Blassgesicht?« Er zerrte an Yanniks Rucksack. Als dieser dagegen stemmen wollte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte rücklings in den Schnee.

»Bitte«, sagte er. »Ich geb euch alles, was ihr wollt, aber lasst mich in Ruhe! Ich… ich will niemandem wehtun«, fügte er leise hinzu.

»Ach, wie süss«, spottete der Typ mit der Lederjacke. »Der Kleine will uns also nicht wehtun, was?« Er lachte und sah mit einem verachtenden Blick auf Yannik hinunter. »Ich hab ja solche Angst.«

»Wie wär’s, wenn wir diesem Idioten mal zeigen, was wirklich wehtut?«, schlug der Dunkelhaarige vor. »Ich wette, dann hat er auch gar kein Problem mehr damit, uns den Rucksack zu geben.« Yannik drückte sich gegen die Hauswand. Die drei Jungs hatten ihn so eng umkreist, dass er ihren nach Alkohol riechenden Atem im Gesicht spüren konnte.

Der erste von ihnen, der Kleine, traf ihn mit dem Schuh mitten in den Bauch. Der zweite Schlag folgte unmittelbar danach. Yannik brach sofort zusammen. Nicht einmal schreien konnte er. Er schnappte nach Luft, doch er hatte keine Zeit zum Atmen. Blut sickerte ihm aus dem Mund. Die Schläge kamen so schnell, dass er schon bald nur noch weisse Flecken vor den Augen sehen konnte. Verzweifelt versuchte Yannik den Schmerz zu unterdrücken, ihn zu kontrollieren, zu verdrängen. Doch er war erbarmungslos, kroch in jede Pore seines Körpers und riss ihn von Innen auseinander. Er war überwältigend; und er war überall.

Das Gefühl kam plötzlich. Es fühlte sich an wie ein Feuer, das in Yannik hochkroch und alles, was er bis zu diesem Moment noch gespürt hatte, vernichtete. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber er hatte keine Chance. Als er die Schreie der Jungs hörte, war es bereits zu spät.

Es wurde still. Yannik richtete sich langsam auf. Die Kraft war mit einem Schlag zu ihm zurückgekehrt. Da war kein Schmerz mehr, keine Kälte. Da war nur noch Leere.

Er sah sich um. Seine Angreifer lagen regungslos vor seinen Füssen. Ihre Gesichter waren blau angelaufen an den Stellen, an denen sie Yannik vor wenigen Sekunden noch mit ihren Schlägen getroffen hatten. Aus dem Mund des Dunkelhaarigen rann Blut heraus und färbte den Schnee rot.

Er wusste, er hätte etwas spüren müssen. Reue. Verzweiflung. Übelkeit. Doch Yannik spürte nichts – gar nichts. Er drehte sich weg und setzte seinen Weg durch die Gasse fort.

Es begann wieder zu schneien.