Es war 18:07 Uhr als Maria per automatisierter Textnachricht darüber informiert wurde, dass das Abendessen in fünf Minuten fertig sein würde. Sie blinzelte die Nachricht weg und beendete die Lektüre des Artikels, mit dem sie die letzte Viertelstunde lang beschäftigt gewesen war. Dann begab sie sich ins Wohnzimmer, wo ihr Vater und Bruder bereits am Tisch sassen.
»Maria«, sagte ihr Vater streng, als sie nach den Kartoffeln langte. »Du liest schon wieder einen dieser Artikel.«
Maria rümpfte die Nase. »Ich finde das halt wichtig.«
Ihr Vater seufzte und ließ die Tischplatte rotieren, bis die Kartoffeln vor seinem Teller standen. »Das ist doch Schwachsinn«, murmelte er.
»Finde ich nicht«, sagte Maria. »Wir würden nicht darüber abstimmen, wenn es nicht wichtig wäre, oder?«
Ihr Vater schnaubte. »Man merkt, dass das deine erste Abstimmung ist.«
Ihr Bruder Janosch zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. So ein bisschen etwas hat die Sache ja schon.«
»Jetzt fängst du auch damit an? Sag bloß, du hast ebenfalls gegen das neue Gesetz gestimmt heute?«
Janosch murmelte etwas Undeutliches.
»Er hat gar nicht abgestimmt, Paps«, sagte Maria. »Kannst du ja selber nachsehen.«
»Jaja«, sagte ihr Vater. »Ich finde deine Angstmacherei halt einfach lächerlich. Es dient doch einfach nur unserer Sicherheit. Wie kann man da dagegen sein?«
»Papa«, sagte Maria empört. »Das ist doch nicht das Problem. Es geht darum, dass es zur Pflicht wird, dass unsere Smart Devices immer und überall alles aufzeichnen. Video und Audio. Macht dir das keine Angst?«
Ihr Vater atmete tief durch. »Warum sollte es? Ich habe doch nichts zu verbergen.« Er lachte kurz. »Wenn die Polizei meiner Verdauung auf der Toilette zuhören möchte, soll sie das doch. Die armen Kerle.«
»Und wenn du Sex hast?«, fragte Maria trotzig.
Der Gesichtsausdruck ihres Vaters wurde hart. »Junge Dame!«
»War doch nur ein Beispiel«, sagte Maria.
Ihr Vater seufzte. »Natürlich ist das Gesetz etwas … invasiv. Aber überleg dir mal, wie viele Verbrechen dadurch aufgedeckt werden können. Oder verhindert. Einfach, weil man weiß, dass es immer ein paar Augen oder Ohren gibt, die solche Gräueltaten einfangen.«
»Ich weiß nicht«, meinte Maria zaghaft und strich gedankenverloren an der Fassung ihrer Datenbrille entlang.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Es gab schon immer Leute wie dich, die viel zu paranoid sind. Wenn diese immer in der Mehrheit gewesen wären, dann würdest du heute nicht automatisch eine Nachricht auf deine Datenbrille bekommen, wenn deine Freundinnen ihr Haus verlassen oder in deiner Nähe sind. Ich erinnere mich noch daran, wie mühsam es damals war, sich zu verabreden.«
Maria verzog das Gesicht.
»Oder Steuern!«, rief der Vater aus. »Ich musste meine Steuern noch selber ausfüllen. Das müsstest du jetzt ebenfalls lernen, hätte man die behördliche Einsicht in die Finanzdaten nicht vereinfacht.«
»Arztbesuche«, warf Janosch nun ein. »Wenn die Medizinaldatenbanken nicht für alle Mitarbeiter der Branche geöffnet worden wären, müsstest du immer zum Arzt rennen, auch wenn du gar nichts hast.« Er tippte auf das elektronische Tattoo an seinem Unterarm. »Jetzt können alle Körperdaten immer gleich sofort ausgewertet werden und du kriegst eine persönliche Nachricht, wenn dir was fehlt.«
Maria nickte geschlagen. »Ich weiß. Ich sag ja nicht, dass das alles schlecht ist, aber…«
Der Vater hob einen Zeigefinger. »Wir wollen dir nur aufzeigen, dass dies alles Dinge sind, die wir auch nicht haben dürften, wenn man deine Meinung konsequent umsetzen würde.«
Maria seufzte. »Und ich will doch nur, dass wir ein wenig skeptischer sind und das durchdenken.«
»Denk, so viel du willst«, meinte ihr Vater abschließend. »Die Abstimmung wird zeigen, dass die Mehrheit sich nicht davor fürchtet, ihre Daten zu teilen.«
»Als Nächstes dürfen wir dann gar nicht mehr abstimmen, weil irgendeine Datenbank eh schon weiß, was jeder wählen wird«, murrte Maria.
»Quatsch«, sagte ihr Vater. »Wir sind eine Demokratie. Soweit wird es nicht kommen. Das hast du von den Artikeln von dieser Organisation da. Wie heißt sie nochmal? ›Bewegung gegen den gläsernen Menschen‹. Ich sage dir: Wenn du nichts zu verbergen hast, dürfen dir solche neuen Vorgaben auch nichts ausmachen.«
»Samuels Familie wurde die Einreise in die USA verboten. Nur weil sein Bruder mal einen Spruch mit ›gefällt mir‹ markiert hat, wo es darum ging, dass die dritte Wiederwahl von Trump die dümmste Tat einer Nation sei, seit Troja das Holzpferd reingelassen hat.«
Ihr Vater schmunzelte. »Na, das war vielleicht etwas übertrieben. Aber das kann man kaum mit dieser Abstimmung vergleichen. Das geht doch um etwas völlig anderes.«
»Und als Onkel Marco letztes Jahr nicht mit in den Freizeitpark durfte, weil er zu lange die Kinder in der Warteschlange angeschaut hat?«
Wieder wurde ihr Vater ernst. »Das hat sich als Defekt der Algorithmen hinter den Überwachungskameras herausgestellt. Man hat sich bei ihm entschuldigt.«
»Und dass Janosch nicht bei der Polizeischule angenommen wurde« Maria deutete auf ihren älteren Bruder. »Weil er nach der Aufnahmeprüfung in einer Bar eine Frau aufgerissen hat, deren Cousin irgendwie in der Drogenszene drinhängt?«
Janosch lief rot an.
»Jetzt nimmst du dir einfach irgendwelche Beispiele heraus«, polterte ihr Vater. »Das hat doch alles gar nichts miteinander zu tun!«
»Natürlich hat es das! Es sind alles Auswertungen von nackten Daten ohne Kontext. Falsche Auswertungen!«
»Und das soll wie genau mit dem neuen Gesetz zusammenhängen, das erst noch kommen wird, junge Dame?«, fragte der Vater zynisch.
»Alles«, sagte sie bestimmt. »Hättet ihr damals anders gestimmt, wäre es nicht soweit gekommen. Beim Nachrichtendienstgesetz 2016 zum Beispiel. Oder der Nachfolgeabstimmung 2021 zur Fixinstallation des Staatstrojaners auf allen internetfähigen Geräten. Oder der erlaubten, nichtanonymisierten Auswertung der Massendaten, die diese Geräte sammeln.«
»Damals ging es ebenfalls einzig um unsere Sicherheit«, sagte ihr Vater entnervt.
»Ach Maria«, sagte Janosch tadelnd. »Du handelst dir noch Ärger ein. Dein zukünftiger Arbeitgeber findet deine Meinung vielleicht nicht so toll, hast du dir das Mal überlegt?«
»Habe ich!«, rief Maria. »Genau darum will ich ja, dass …«
Die Diskussion verstummte, als bei allen dreien auf einmal eine Nachricht auf den Datenbrillen erschien.

Abstimmungsresultate der Volksabstimmung vom 27. Mai 2027:
Die Schweizer Stimmberechtigen haben das Kriminalitätspräventions- und Aufklärungsgesetz mit 71,5 gegen 28,5 Prozent angenommen.