Das Make-up sass. Laura hatte die Smoky Eyes perfekt getroffen, dunkel mit etwas grünem Glitzer. Dasselbe grün wie die Spitzen der blonden, buschig toupierten Echthaarperücke, welche sie mit dem ebenso grünen Bandana zurückhielt. 

 Sie zupfte hier an einer Strähne, packte da noch mehr Haarspray drauf und verzog das Gesicht, weil es noch nicht so perfekt war, wie sie es sich wünschte. 

»Pikey«, grollte es hinter ihr und zwei Hände landeten auf ihren Schultern. »Wie lange willst du noch an den Haaren arbeiten? Die Show startet in einer Vierterstunde.«

Lauras Blick huschte zum Hautkleber und beiden Schachteln auf dem Tisch. In einer davon befand sich weiter grüner Glitzer, in der anderen das kleingeschnippelte Falschhaar aus dem Bastelshop.

Die letzten Accessoires, um ihren Glam Rock Look zu vollenden. Der letzte Schritt, um Laura, die Arztassistentin, in Pike Shine, Rockstar und Ladiesman,  zu verwandeln.

Sie seufzte.

»Was ist los?«, fragte Sandra und setzte sich neben sie.

Sie trug ein knallbuntes Hawaii-Hemd und ihre natürlichen schwarzen Haare waren mit einer Tonne Haargel nach hinten geglättet. Dazu trug sie eine große Fliegersonnenbrille und hatte sich einen dünnen Schnäuzer aufgemalt. Beef McGroin lautete der Name ihres Bühnen-Ichs und verkörperte sämtlichen Klischees eines Aufreißers am Strand von Ibiza.

»Meine Familie ist hier«, sagte Laura und Beef riss die Augen auf.

»Echt? Ist doch klasse!«

»Ja«, sagte Laura langsam. »Es macht mich nur etwas nervös.«

»Denk einfach nicht daran. Das wird eine Show, wie jede andere.«

Sie klopfte ihr auf die Schultern und ging davon zu den anderen Drag Kings, die bereits fertig waren. 

Laura wusste, dass sie recht hatte.

Als sie sich als bisexuell geoutet hatte, hatte sich zuhause nichts wirklich verändert. Als sie ihre erste Freundin mitgebracht hatte, war diese mit offenen Armen empfangen worden. Als sie in das Show Business als Drag King eingetreten war, hatte sie das Konzept von Frauen, die sich als Männer verkleideten, zwar erst einmal erklären müssen, aber sie hatten es sofort akzeptiert.

Ihre Eltern zumindest.

Laura nahm den Kohlestift zur Hand und malte die Flächen ihres zukünftigen Bartes an. Dann drehte sie den Hautkleber auf und pinselte ihn auf dieselben Stellen.

Ihr Bruder Mike hatte sich eher schwergetan damit. Und auch er sass heute im Publikum.

Vorsichtig öffnete sie die Dose mit dem Kunsthaar und nah mein wenig davon zwischen ihren Zeigefinger und Daumen. Dann tupfte sie damit über die Stellen mit dem Hautkleber, bis der Bart gleichmäßig sass. Hie und da korrigierte sie etwas nach, doch sie gab sich zufrieden, da die Zeit langsam knapp wurde.

Mike und sie waren sich als Jugendliche immer nahe gestanden und sie vermisste diese Zeit. Aber Leute änderten sich nun mal.

Sie wischte die losen Härchen von ihrem Gesicht und pappte mit der gleichen Taktik wie vorhin das Haar, den Glitzer auf den Bart.

Ab und zu wünschte sie sich, sie hätte den Mut, ein ernsthaftes Gespräch mit Mike zu führen und ihm klarzumachen, was dies alles für sie bedeutete.

Sie stellte sich vor den Spiegel. Sie machte einen prüfenden Griff, dass ihre Brüste auch anständig zur Seite geklebt waren und während der Show nicht plötzlich unter dem bis zum Bauchnabel geöffneten Hemd hervorpoppten. Lange war das ihre größte Angst gewesen, aber inzwischen vertraute sie auf ihre Fähigkeiten. Sie kniff kurz in die falschen männlichen Brustwarzen und drehte sich ab, um zu sehen, ob sie die Schattierung ihrer aufgemalten Bauchmuskeln gut hingekriegt hatte.

Dann zwinkerte sie Pike Shine im Spiegel verschwörerisch zu, bevor sie die Umkleide in Richtung Bühne verließ.

»Du warst … on fire!«

Beef klopfte ihr auf die Schultern und verlangte einen Fistbump von ihr. Dem kam sie gerne nach, denn ja … Scheiße, diese Show hat gesessen! Kaum war sie auf der Bühne gestanden, war all ihre Nervosität verflogen und sie hatte alles gegeben. Laura war vergessen gewesen und Pike hatte seine wahre Natur an den Tag gelegt. 

Das Blut rauschte nur so in ihren Ohren.

Trotzdem hieß es jetzt als allererstes aus den verschwitzten Klamotten und der Perücke raus. 

Bart und Make-up ließ sie erstmal stehen. Sie gestand, dass sie die schrägen Blicke nach den Auftritten mochte. Sie hielten das Adrenalin von der Bühne am Leben und sie genoss es, so lange sie konnte. So lange sie den Bart trug, war auch Pikes Selbstbewusstsein irgendwie bei ihr.

Als sie das Theater durch den Hinterausgang verließ, standen dort ein paar der anderen Kings, Lauras Blick wurde sofort von den drei Leuten eingefangen, die etwas abseits standen.

Sofort sank ihr Magen tiefer. 

Sie hatte komplett vergessen, dass ihre Familie da gewesen war.

»Das war… interessant«, sagte ihre Mutter mit einem nervösen Lächeln und ihr Vater nickte nur.

Laura nahm es ihnen nicht übel. Es war eine Welt, die sie nicht kannten, aber immerhin zu verstehen versuchten. Sie hatte nicht erwartet, dass sie vollkommen begeistert wären.

Sie wandte sich an Mike, aber er wich ihrem Blick aus.

»Könntest du den Bart nicht immerhin abmachen, bevor du nach draußen gehst?«,  murrte er.

Sie reckte das Kinn.

»Warum?«

»Weil es unanständig ist.«

Sie stutzte. »Unanständig? Dass ich einen Bart trage?«

»Lass doch gut sein, Mike«, sagte ihre Mutter schlichtend, aber ihr Bruder hörte nicht hin.

»Genau. Wir müssen mit dir nach Hause laufen und die komischen Blicke ertragen.  Du könntest dir ja vielleicht überlegen, wie das für uns ist und nicht so egoistisch sein, mit deiner Verkleidung auf die Straße zu gehen.«

Ein Stich fuhr ihr durch die Brust, gleichzeitig wogte aber eine heiße Wut in ihr auf.

»Verkleidung?«, grollte sie. »Weißt du was? Die einzige Zeit, in der ich eine Verkleidung trage, ist, wenn ich mich mit dir abgeben muss. Damit du dich nicht unwohl fühlst in der kleinen, ignoranten Welt, in der du lebst!«

Ihre Eltern sogen scharf Luft ein und Mikes Gesicht lief feuerrot an. Aber Laura dachte nicht daran, etwas davon zurückzunehmen. Sie tippte ihrem Bruder mit dem Zeigefinger auf die Brust.

»Das hier ist keine Verkleidung. Das hier bin ich. Ob es dir gefällt oder nicht.«

Mit hoch erhobenem Kopf drehte sie sich ab und marschierte davon.