Doktor Diaz warf die Latexhandschuhe in den Eimer und entferne die Schutzmaske von ihrem Gesicht.

»Alles in Ordnung, Linda«, sagte sie und wartete, bis das Mädchen aufgestanden war.

»Danke«, nuschelte Linda und reichte Diaz höflich die Hand. Dann verließ sie das wangenreibend Behandlungszimmer.

Diaz legte die Akte ab, während ihre Assistentin die Werkzeuge reinigte.

»Die nächste Patientin möchte einen kosmetischen Eingriff«, sagte die Assistentin und Diaz holte die nächste Akte hervor.

Sie war brandneu und enthielt nur Name und Geburtsdatum der Patientin.

Diaz schloss für einen Moment die Augen. Es war die letzte Patientin nach einem langen Tag. Die Sonne war bereits unter gegangen und auf dem kleinen Bildschirm in der Ecke des Behandlungszimmers liefen die Frühabendnachrichten.

Die Tür öffnete sich und Diaz erhob sich von ihrem Drehstuhl und streckte die Hand aus. »Guten Tag, Frau Ross.«

Die Frau, die eingetreten war, erwiderte die Geste etwas zögerlich und drückte ihre Hand nur schwach.

»Amanda«, sagte sie leise.

Gemäß Akte war Amanda um die Vierzig, ihr schlankes, straffes Gesicht ließ sie jedoch jünger wirken. Ihre Augen huschten flüchtig über den Raum und blieben an den Werkzeugen neben dem Patientensessel hängen.

»Bitte nehmen Sie doch Platz, Amanda«, sagte Diaz.

Das Gesicht der Frau war blass und ihre Glieder waren unter vielen Lagen schwarzer Kleidung versteckt, aber es hätte Diaz nicht überrascht, sie ein wenig zittern zu sehen. Keine ungewöhnliche Erscheinung in einer Zahnarztpraxis.

Amanda ließ sich zögerlich im Sessel nieder.

»Wie kann ich helfen?«, fragte Diaz und montierte ihre Schutzmaske.

Die Frau leckte sich über die Lippen, den Blick immer noch auf die Werkzeuge gerichtet.

»Ich… ich bräuchte einen Eingriff«, sagte sie dann leise.

»Ich verstehe. Kosmetischer Natur?«

Amanda nickte und öffnete etwas widerwillig den Mund.

Diaz musterte die Zähne – alle strahlend weiss und in Reih und Glied, als gehörten sie einem Hollywood-Star.

Amanda schob einen Zeigefinger unter die Lippen.

»Eckzähne«, nuschelte sie.

»Ah«, sagte Diaz, als ihr dämmerte.

Es ging nicht um eine Korrektur.

Sie hatten nicht oft Kundinnen oder Kunden mit dem Wunsch nach einer sogenannten Body Modification und wenn, dann waren sie meistens jünger.

»Sie möchten eine Zahn-Rekonturierung ihrer Eckzähne?«, fragte Diaz und Amanda nickte.

Diaz könnte jetzt raten, wie diese aussehen sollte, aber die Lagen schwarzer Kleidung und die Tatsache, dass es um die Eckzähne ging, verrieten ihr genug. Dennoch wartete sie geduldig ab.

»Spitz. Ich möchte spitze Zähne. Wie Fangzähne?«, sagte die Frau leise und blickte Diaz dabei nach wie vor nicht direkt an.

Die Ärztin nickte.

Solche Eingriffe waren kein Problem in ihrer Klinik, aber sie musste gestehen, dass solche Kundinnen oder Kunden normalerweise deutlich überzeugter auftraten.

Ob der Eingriff wirklich Amandas eigener Wunsch war, oder sie vielmehr dem Gruppendruck zum Opfer fiel?

Diaz wollte bereits etwas sagen, als ihr ihr eigener Eingriff vor ein paar Jahren in den Sinn kam. Sie hatte sich die Gebärmutter entfernen lassen wollen, war aber vor unzähligen Ärzten abgeblitzt, bis sie jemanden gefunden hatte, der ihre Entscheidung ernstgenommen hatte.

Amandas Augen weiteten sich plötzlich und sie sank noch ein bisschen mehr in sich zusammen. Diaz folgte ihrem Blick zum Bildschirm, wo gerade eine Berichterstattung lief. Bilder von einem Körper unter einem weißen Tuch wurden abgelöst von einer Nahaufnahme von etwas, das nur eine Blutlache sein konnte.

… herausgerissene Kehle … möglicher Tierangriff … , stand in den Untertiteln.

Diaz griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»In Ordnung«, sagte sie und streifte die Latexhandschuhe über. »Starten wir mit der Voruntersuchung.«

Einige Wochen später lag die Akte von Amanda Ross erneut auf Diaz‘ Tisch, wieder als letzte Patientin des Tages. Die Terminfindung war nicht einfach gewesen, da Amanda einen vollen Terminkalender zu haben schien und schlussendlich hatte sich Diaz bereit erklärt, an diesem Abend länger zu bleiben.

Sie hatte sich noch einmal überlegt, ob sie Amanda auf ihre Beweggründe ansprechen sollte, hatte sicher aber dagegen entschieden. Sie hatte Amanda ausreichend auf die Risiken des Eingriffs aufmerksam gemacht, alles andere ging sie nichts an.

Amanda wirkte noch etwas fahler und eingefallener als vor ein paar Wochen.

»Es geht mir gut«, versicherte sie jedoch mit einem zurückhaltenden Lächeln. »Ich bin nur etwas nervös.«

Diaz nickte und deutete auf den Stuhl.

Der Eingriff dauerte nicht lange und Ross blieb dabei entspannter als erwartet. Sie ließ die Prozedur mit geschlossenen Augen über sich ergehen und ein, zwei Mal fragte sich Diaz sogar, ob sie eingeschlafen sei.
Aber kaum legte sie die Werkzeuge zur Seite, öffnete Amanda die Augen weit und fuhr sich mit der Zunge über die spitzen Beißerchen.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte Diaz und griff nach dem Spiegel.

Doch Amanda machte eine abwehrende Geste und befühlte die Zähne weiter mit der Zunge. Ihr Augen strahlten und ein Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit.

»Fantastisch«, sagte sie und sprang aus dem Stuhl, bevor Diaz die Lehne wieder gerade stellen konnte.

Diaz starrte die Frau an, die wie verwandelt war. Aufgeregt ging sie auf und ab, steckte den Finger in ihren Mund und leckte sich dann wieder mit der Zunge über die Zähne.

Dann entwich ihr ein kurzes Auflachen und sie wandte sich an Diaz.

»Vielen Dank«, sagte sie. »Vielen, herzlichen Dank. Sie glauben nicht, wie … Ich war bei anderen Zahnärzten. Die wollten so etwas nicht machen. Aber Sie… Sie haben keine dummen Fragen gestellt. Und jetzt bin ich glücklich. Vielen Dank.«

Sie schüttelte Diaz kräftig die Hand und diese ließ es perplex über sich ergehen.

Dann war Amanda mit einem Satz bei der Tür und im Gang.

»Moment«, sagte Diaz und setzte ihr nach.

Amanda hatte die Hand an der Klinke der Eingangstür, wandte sich aber noch einmal zu Diaz um und strahlte sie an.

Diaz wollte etwas erwidern, wollte sie an die Rechnung erinnern und an einen
Kontrolltermin.

Aber sie brachte kein Wort heraus. Sie sah sich selber und ihre schockierte Miene im Ganzkörperspiegel der Garderobe. Aber von Amanda, die direkt vor dem Spiegel stand, war darin nichts zu sehen.

»Danke«, sagte Amanda noch einmal, schickte ein Augenzwinkern zu ihr hinüber und war auf einen Schlag verschwunden.