Das Gewitter hatte sie nicht überrascht, aber es war schneller und heftiger über sie hereingebrochen als erwartet. Selina verfluchte sich selber dafür, so überzeugt gewesen zu sein, dass sie es heute noch zu Fuß in das Städtchen schaffen konnte. Hätte sie bloß früher nach einem Unterschlupf Ausschau gehalten. Oder wäre weniger knauserig gewesen und hätte sich einen Platz in einer Kutsche ergattert.
Klagen nutzte nichts. Sie zog den Lodenmantel enger um die Schultern und war froh, hatte sie immerhin diese Anschaffung getätigt. Sie hatte vorhin ein Licht durch die Bäume blitzen gesehen und hielt darauf zu. Es konnte unmöglich das Städtchen sein, aber wo es Licht gab, musste es doch immerhin ein Dach geben. Oder zumindest eine trockene Stelle und ein Feuer.
Kurz darauf stand sie tatsächlich vor einer kleinen Hütte mitten im Wald. Ein sanfter Schein drang durch ein Fenster. Es genügte nicht, um etwas im Innern zu erkennen, aber es war ihr auch egal, wer in der Hütte hauste. Solange man sie einlassen würde. Mit kräftigen Schlägen klopfte sie an die Tür und sie wurde einen Spalt geöffnet.
»Hallo?«, fragte Selina.
Der Spalt verbreiterte sich und sie blickte in das ernste Gesicht eines Mannes. Er war gut zwei Köpfe größer als sie, tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht, und sein dichter, brauner Bart hing ihm bis unter die Brust.
»Guten Abend«, sagte Selina hastig. »Ich wurde vom Wetter überrascht und …«
»Geh weiter«, brummte der Mann und schob die Tür zu.
Selina reagierte schnell und schob ihren Fuß dazwischen.
»Es tut mir leid«, sagte sie eindringlich. »Aber ich habe den Pfad verloren und schaff es nicht bis zur Stadt.«
Der Bärtige wirkte erzürnt, dann seufzte er und öffnete die Tür, damit sie eintreten konnte.
»Danke«, sagte sie und war mit einem Satz drinnen.
Dort zog sie die triefenden Sachen aus. Im Kamin loderte ein Feuer und sie breitete die Kleider daneben aus. Dann stand sie etwas verloren in ihren Unterkleidern in dem Raum. Der Mann hatte in der Zwischenzeit einen Becher mit dampfender Flüssigkeit gefüllt und reichte ihn ihr. Dann setzte er sich auf den Sessel vor dem Kamin.
»Es gibt einen Hocker da hinten«, sagte er dann und nickte in Richtung Kochnische.
Selina holte den Hocker heran und setzte sich nahe ans Feuer im Versuch, die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.
»Danke«, sagte sie noch einmal und trank einen Schluck Tee.
Der Bärtige schnaubte nur.
Verstohlen blickte sie sich um. Die Hütte bestand aus einem Raum. Am Ende stand ein einfaches Bett mit einem Fellüberwurf, es gab die Kochnische mit einem kleinen Tisch und den Sessel vor dem Kamin. Das war es auch schon.
»Ist dies ihr Jagdhaus oder so ähnlich?«, fragte sie.
Der Mann musterte sie aus dunklen Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Ich wohne hier.«
»Oh«, machte Selina. »Schön.«
»Zweckdienlich.«
Sie schwiegen.
»Was willst du in der Stadt? Verwandte?«, fragte der Mann schließlich, dem die Stille genauso unangenehm zu sein schien wie Selina.
»Ich suche Arbeit«, antwortete sie.
»Was für Arbeit?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich egal. Ich kann mich mit jedem Handwerk anfreunden und ich lerne schnell.«
»Hm«, machte der Mann.
»Denken Sie, ich finde dort Arbeit?«
Er wiegte den Kopf. »Das Städtchen ist klein und hat alles, was es braucht.«
»Sie kennen es also?«, fragte sie.
Er nickte. »Mein Geschäft steht dort.«
Selina runzelte die Stirn. »Sie gehen jeden Tag von hier aus in die Stadt, um zu arbeiten?«
»Nicht mehr.«
»Was für ein Geschäft ist das?«
»Ein Friseurladen.«
Selina entfuhr ein kurzes Lachen, doch sie verstummte, als der Mann keine Regung verriet.
»Verzeihung«, sagte sie. »Es ist nur…«
»Ich sehe nicht aus, wie ein Barbier«, sagte der Mann.
Er strich sich durch den langen, nicht gestutzten Bart.
»Was ist passiert?«, fragte Selina und der Mann hob die Augenbrauen. »Irgendwas muss passiert sein. Sonst lebten Sie heute nicht hier.«
Der Mann seufzte. »Der Bürgermeister hat ein neues Gesetz erlassen. Das Barbiergesetz. Es besagt: ›der Barbier muss und darf nur jenen Männern den Bart schneiden, die sich nicht selber den Bart schneiden.‹.«
Selina nickte. »Klingt sinnvoll. So wird der Bart jedes Mannes geschnitten.«
Die Augen des Mannes wurden auf einmal wässerig. »Nicht jedes Mannes.«
Sie kniff die Augen zusammen, als sie sich das Gesetz nochmals durch den Kopf gehen ließ.
»Oh!«, sagte sie dann. »Aber das heißt ja …«
»Es ist unmöglich«, sagte der Mann. »Würde ich meinen eigenen Bart schneiden, so breche ich das Gesetz, denn ich darf keinem Mann den Bart schneiden, der sich selber den Bart schneidet. Wenn ich ihn mir schneiden lasse, so breche ich ebenfalls das Gesetz, weil ich jedem Mann den Bart schneiden muss, der es nicht selber tut.«
»Das ist verrückt«, sagte Selina. »Darum sind Sie gegangen? Verständlich.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht gehen. Ich kann auch keine neue Arbeit annehmen. Die Stadt braucht einen Barbier. Und jeder hätte dasselbe Problem wie ich.«
»Hm«, sagte Selina und blickte in ihre Tasse. »Das ist schrecklich.«
»Ich habe mich hier im Wald versteckt, bis ich eine Lösung für das Problem finde. Ich denke täglich mehrere Stunden darüber nach, aber es gibt keine.«
Er schüttelte traurig den Kopf.
Selina lachte auf einmal hell auf, so dass der Mann vor Schreck zusammenzuckte und sie anstarrte, als wäre sie verrückt.
»Natürlich gibt es eine Lösung«, sagte sie.
»Ach ja?«, fragte er skeptisch.
Sie nickte. »Und ob. Sie überlegen sich, was für eine Arbeit sie in der Zukunft ausüben möchten.«
Er schüttelte vehement den Kopf. »Das geht nicht. Die Stadt braucht einen Barbier«, wiederholte er.
»Natürlich tut sie das«, sagte Selina bestimmt. »Und den wird sie auch kriegen. Oder besser: Die. Mein Bart muss nicht geschnitten werden.«
Die Miene des Mannes erhellte sich. »Aber das ist unmöglich. Keine Frau hat je …«
»Je«, bestätigte Selina. »Wird Zeit, dass sich das ändert. Bringen Sie mir bei, was sie wissen und Sie werden der erste sein, der den Bart von der ersten Barbierin geschnitten bekommt.«
Der Mann musterte sie lange. Dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Abgemacht.«