Das fehlende Stück
Silvana sass im Schneidersitz auf dem Teppichboden, das Kinn auf ihre gefalteten Hände gestützt und die Stirn in Falten gelegt. Im Augenwinkel erkannte sie, wie jemand an der Wohnzimmertür vorbeiging und kurz darauf zurückkam und im Rahmen stehen blieb.
»Ich dachte ich sei die ältere Schwester«, sagte Laura spöttisch.
»Hm?«, machte Silvana etwas abwesend, ohne hochzusehen.
»Ein Puzzle«, erklärte Laura und deutete auf den Boden vor ihrer Schwester. »Ich dachte, das sei so eine alte-Leute-Beschäftigung.«
Nun blickte Silvana auf und rollte die verspannten Schultern.
»Das ist kein Puzzle, du Dumbatz.« Sie nahm eines der Teile vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das ist ein zerrissenes Foto.«
Laura setzte sich zu ihr und nahm ihr das Fitzelchen ähnlich vorsichtig aus den Fingern.
»Wenn du unbedingt was zusammensetzen willst, Schwesterherz, hier stehen eine ganze Menge Umzugskisten herum, das weißt du schon?«
Ihre Stimme klang nicht mehr so stichelnd wie zuvor und sie hatte die Stirn nun selber in Falten gelegt.
»Ich weiss«, seufzte Silvana und ignorierte den halb ausgepackten Karton neben sich. »Aber mir ist dieser Umschlag in die Hände gefallen mit den Fitzelchen drin.«
Sie schob Laura den Umschlag zu und diese las, was darauf stand: »ALS? Was bedeutet das?«
»Vielleicht der Anfang eines Satzes? ›Als wir in den Zoo gingen‹ oder so?«
Laura schmunzelte. »In den Zoo?«
Silvana deutete auf den Boden vor ihr. »Ich glaube, das ist ein altes Foto von einem Familienausflug. Ich hab schon ein paar Sachen zusammen.«
»Hm«, machte Laura und studierte das Puzzle.
Dann legte sie das Teil in ihren Fingern vorsichtig an eine Stelle, wo es hinpassen könnte, und nahm das nächste.
Für eine Weile brüteten sie schweigend über dem Bild, bis Laura sagte:
»Das ist die Kiste mit Omas alten Sachen, oder?«
Silvana nickte. Sie hatte sie erst letzte Woche aus dem Altersheim geholt. Omas letzte Besitztümer.
Ein Knoten formte sich in Silvanas Hals. Laura fasste nach ihrer Hand und drückte sie sanft.
»Denkst du, das war ein Ausflug mit uns? Oma, Opa und wir beide?«
Silvana schnaufte tief durch. »Vielleicht. Ich glaube aber da sind mehr Leute auf dem Bild.«
Die Erinnerung an ihre ihre Großeltern weckte gemischte Gefühle in ihr. Sie hatte sie geliebt und die Zeit mit ihnen war immer wundervoll gewesen. Aber es war auch eine Erinnerung daran, dass ihre Eltern nie Zeit für die Schwestern gehabt und sie mehr oder weniger zurückgelassen hatten, als Silvana gerade mal zehn gewesen waren.
»Irgendwie seltsam«, unterbrach Laura Silvanas Gedankengang.
»Was meinst du?«
Laura nickte kaum merklich zu der Kiste.
»Vollwaise zu sein.« Sie lächelte ein schiefes Lächeln. »Irgendwie fühlt es sich so an, oder?«
Silvana drückte nun im Gegenzug Lauras Hand.
»Oh«, sagte sie dann aber und löste sich von dem Griff.
Stattdessen fasste sie nach einem neuen Teil und fügte es an das Bild an.
»Das bist du, oder?«, sagte sie.
»Scheint so. Warum hat Oma das Bild wohl zerrissen?«
Diese Frage war es, die Silvana seit gut einer Stunde an dieses Rätsel band. Wäre es ein einfaches Foto gewesen, hätte sie es vielleicht aussortiert, aber das hier faszinierte sie.
Laura ließ ein Grunzen hören. »Ich glaub, ich hab das Gesicht unseres Genspenders gefunden.«
Sie platzierte ein Teil über den passenden Torso, den sie schon fast zusammen hatten.
Sie studierte die Züge ihres Vaters. Auf dem Arm hielt er ein Kind, das nur Silvana sein konnte, aber das Teil mit ihrem Gesicht fehlte noch. Das Kind hatte die Arme um den Hals ihres Vaters geschlungen und er konnte ihre Augen nicht von ihr nehmen.
Die Qualität des Fotos war nicht sonderlich gut, aber es übermittelte es viel Emotion.
Sie arbeiteten stumm weiter, setzten Teil für Teil an und das Foto ergab ein immer deutlicheres Bild.
»Erinnerst du dich an diesen Ausflug?«, fragte Laura.
»Nein, aber ich war da auch noch recht jung.«
»Stimmt. Ich war vielleicht acht . Abr ich habe keine Ahnung, wo und wann das war.«
Das Foto zeigte ihre Familie. Laura, Silvana, ihre Eltern und Oma. Opa hatte vermutlich das Bild geschossen.
»Irgendwas stimmt nicht«, meinte Silvana, als sie die restlichen Fitzelchen betrachtete. »Ich glaube da fehlen Teile.«
»Wäre ja kein richtiges Puzzle, wenn es nicht so wäre, oder?«, witzelte Laura.
Das Bild war fast vollständig, aber rechts außen fehlte ein größeres zusammenhängendes Stück. Der ausgestreckte Arm ihrer Mutter reichte in die Richtung, als ob sie dort jemanden an der Hand hielt.
Silvanas Herz schlug auf einmal schneller.
»Was zur Hölle«, murmelte Laura und drehte den Umschlag um, um zu sehen, ob weitere Teile herausfielen, was nicht der Fall war.
»Laura«, sagte Silvana leise. »Wer war da noch mit dabei?«
»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht.«
Silvana legte den Finger auf die Lücke im Bild und ihre Fingerspitze kribbelte.
»Das ist ein Familienfoto. Aber jemand fehlt.«
»A«, sagte Laura.
»Wie?«
»A.« Sie wedelte mit dem Umschlag. »›L‹, wie Laura. ›S‹, wie Silvana. Und ›A‹.«
Das Kribbeln in Silvanas Fingerspitze verstärkte sich.
»Andrea«, hauchte sie.
Lauras Hand umfasste ihren Oberarm plötzlich so fest, dass es fast schmerzte.
»Was hast du gesagt?«
»Andrea«, wiederholte Silvana und die beiden Schwestern starrten sich an.
Ein eiskalter Schauer jagte über Silvanas Rücken.
»Andrea…«, flüsterte Laura. »Unsere Schwester.«
Ein Gedanke nach dem anderen jagte durch Silvanas Verstand. Keiner machte Sinn.
»Warum haben wir sie vergessen?«
Laura starrte auf das unvollständige Bild. »Etwas war mit ihr, oder? Sie ist der Grund, warum unsere Eltern weggegangen sind.«
»Du meinst, sie sind nicht freiwillig gegangen?«, fragte Silvana und Laura schüttelte den Kopf. »Warum hast du mir das nie erzählt?«
Laura raufte sich die Haare. »Weil ich es vergessen habe. Genauso wie du!«
»Laura«, hauchte Silvana. »Das macht mir Angst.«
»Mir auch. Aber weisst du was«, sagte Laute mit fester Stimme, als sie die geöffnete Kiste heranzog. »Wir finden heraus, was passiert ist. Andrea muss irgendwo sein. Da draußen in der Welt. Wir finden sie. Und unsere Eltern.«
Silvanas Finger lag immer noch auf der leeren Stelle und das Kribbeln hatte sich nun auf ihren ganzen Körper ausgebreitet.
»Wir finden dich«, flüsterte sie bestimmt.
Schreibt und liest querbeet im Phantastikgenre, wagt regelmässige Ausflüge in neue Gefilden und tut sich schwer damit, sich kurz zu halten.
Lucie Müller
huch, da bekomme ich glatt Gänsehaut.
Carmen Capiti
Uh, Ziel erreicht in dem Fall! 😀
Tamara Guidolin
Oh, mysteriös … Klingt ein bisschen nach einem Romananfang. 🙂
Carmen Capiti
Keine Ideen in den Kopf setzen bitte! 😉