Als ich aus der Luke stieg, fuhr mir der Wind entgegen. Zwar hatte ich mich mental auf die Kälte eingestellt, aber mit diesen eisigen Temperaturen hatte ich nicht gerechnet. Pete’s Reaktion war ähnlich. Instinktiv zog er seinen Kopf ein wenig zurück in die übergrosse Kapuze, deren Saum mit Pelz versehen war.

«Das ist Wahnsinn, Marina. Du wirst da draussen sterben!», protestierte er, wobei sein Atem in weissen Fahnen von seinem Mund wegstrebte. Insgeheim war ich mir bewusst, dass meine Chancen verschwindend klein waren. Aber das wollte ich vor ihm nicht zugeben, ansonsten würde er mich nie gehen lassen.

«Das werde ich nicht. Du weisst, was ich alles aushalten kann», sagte ich und legte alle Zuversicht, die ich aufbringen konnte, in meine Stimme.

«Aber das hier ist anders. Du bist noch nie …», begann er, doch ich versiegelte seine Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss. Dann, während er sich noch sammelte, schlüpfte ich aus der dicken Jacke. Darunter trug ich lediglich einen hautanliegenden Anzug. Er würde mich eine Zeit lang vor der Eiseskälte schützen. Ob es genug war, um mein Ziel zu erreichen, würde sich noch herausstellen.

«Ich liebe dich!», rief ich ihm über die Schulter zu und schritt den Rumpf des U-Boots entlang. Schwarzes Wasser plätscherte gegen das dunkle Metall. Normalerweise zögerte ich nie, um ins Wasser zu springen. Aber dieser Tag war anders. Heute gab mir kein Offizier Befehle. Heute rief mich das Wasser selbst.

Seit ich herausgefunden habe, dass die Monster, denen man im weiten Ozean begegnete, etwas über meine Herkunft wussten, war ich auf der Suche nach Hinweisen gewesen. Die Fährte hatte mich bis hierher ins ewige Eis geführt.

Ich gab mir einen Ruck und sprang. Die Kälte, die mich umgab, war allumfassend. Unter Wasser war es alles andere als dunkel. Das Eis gab der Umgebung einen hellen, bläulichen Schein. Doch mein Ziel lag nicht an der Oberfläche. Es lag in der Dunkelheit darunter.

Den Schatten des U-Bootes im Rücken tauchte ich hinunter, während sich meine Kiemen aktivierten. Die Quelle behauptete, dass hier ein Hinweis zur Stadt versteckt war. Mit kräftigen Schwimmzügen tauchte ich in die Tiefe. In der Ferne konnte ich die Umrisse von zwei verspielten Robben wahrnehmen. Ab und zu glitzerten die beschuppten Leiber von Fischen auf, doch ansonsten schien der Ort verlassen zu sein.

Schliesslich schälte sich der sandige Untergrund aus der Dunkelheit. Enttäuschung überflutete mich. Mein Informant musste falsch gelegen haben. Hier gab es nichts!

Ich liess mich zu Boden gleiten. Sand wirbelte auf, als ich aufkam. Einige Krebse nahmen wuselnd Reissaus vor mir. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse. In der Ferne entdeckte ich eine felsige Erhebung, auf die ich nun zuhielt. Wenn es hier unten etwas Spannendes zu sehen gab, dann würde ich es von dort entdecken.

Auf dem Weg merkte ich, wie die Kälte an mir nagte. Im Wasser war es wärmer als an der eisigen Oberfläche, trotzdem wusste ich, dass meine Zeit hier unten begrenzt war.

Plötzlich fiel ein Schatten über mich. Meine Hand schoss zu meinem Oberschenkel, an dem ich eine automatisches Unterwasserpistole befestigt hatte. Zuerst sah ich nur dunkle Schuppen eines gewaltigen Leibes, der sich über mir schlängelte. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Der erste Instinkt war, mich zu verteidigen, doch ich musste meine Angst bezwingen. Der Hinweis war keine Unterwasserruine, sondern dieses Monster! Ich schwamm zur Seite und blickte dem langen, moränenartigen Körper entlang, bis ich den gehörnten Kopf mit den furchteinflössenden Zähnen entdeckte.

Das letzte Wesen hatte einen telepathischen Link mit mir aufgebaut, sodass es mir Bilder von einer Unterwasserstadt und den darin lebenden Menschen zeigen konnte. Würde es auch klappen, wenn ich versuchte, den Link herzustellen?

Ich konzentrierte mich und legte alle Kraft in einen Gedanken: «Mein Name ist Marina. Ich bin auf der Suche nach einer Stadt unter Wasser und Menschen, die so sind wie ich.»

Der grosse Kopf ruckte herum und die riesigen Augen fixierten mich. Die Iriden glitzerten blass wie das Eis über unseren Köpfen. Einen Moment lang geschah nichts und Zweifel überkamen mich, als sich der Kopf noch näher an mich heranschob. Nun trennte uns kaum noch eine Armlänge. Wie bei Walen, war der gewaltige Körper mit kleinen, parasitären Muscheln übersät. Die Zähne selbst strahlten gelblich wie Elfenbein.

Dann überrollten mich die Gedanken des Wesens wie eine gewaltige Welle. Ich hatte keine physikalischen Schmerzen, trotzdem schrie ich gepeinigt auf und griff mir an den Schädel. Für einen Moment, war mein Geist nicht mehr meiner. Ich sah die Stadt und deren Einwohner wieder. Verzweifelt versuchte ich Details zu erkennen, die mir einen Anhaltspunkt über den Ort geben konnten, als sich das Bild änderte. Nun sah ich mich selbst. Die Arme um einen gelben Pfeiler geschlungen, sass ich in einer Art Höhle. Meine Kiemen flatterten, also musste ich mich immer noch unter Wasser befinden. Da erfasste mich eine Strömung und ich musste darum kämpfen, nicht weggespült zu werden. Als der Sog nachliess, sank ich wieder zurück auf den fleischigen Untergrund, das Gesicht vor Horror verzerrt.

Das Bild verschwand, aber ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken, die plötzlich wieder die meinen waren, zu sammeln. Das Wesen öffnete seinen riesigen Schlund und ich dachte schon, es würde mich nun doch verschlingen. Aber da fiel mein Blick auf die Wand aus Reissern und ich verstand plötzlich.

«Du willst, dass ich in deinen Mund klettere?» fragte ich über den Link.

Zur Bestätigung sandte es mir ein weiteres Bild. Ich sah mich unverletzt aus dem Maul klettern und auf ein farbenprächtiges Korallenriff hinuntergleiten. In der Ferne glitzerte die Stadt.

Wohlwissend, dass Pete annahm, dass ich gestorben sei, wenn ich nicht mehr auftauchte, zog ich mich an den Hornplatten hoch und schwamm an den Platz, den ich vorhin gesehen hatte. Das Wesen schloss seine Kiefer. Doch anstatt kompletter Finsternis herrschte nun ein bläuliches Licht, das von lumineszierenden Algen ausging. Ein Ruck ging durch den Körper, als sich das Wesen in Bewegung setzte.

Ich schlang die Arme um einen der Zähne und hoffte, dass ich nicht gerade den grössten Fehler in meinem Leben gegangen hatte.


Diese Flash-Fiction ist eine Fortsetzung zu einer Flashfiction, die ich zum Thema «Wasser» geschrieben habe. Hier gehts zur ersten Story von Marina. Diese  Geschichte hier sollte jedoch auch alleine stehen können.