«Komm schon, die paar Wochen wird man ja wohl noch aushalten, oder?»

Anna schob sich in die Badezimmertür. Mit einer Schere in der Hand und dem Rücken zum Spiegel stand Jonas bereit und blickte sie erwartungsvoll an.

«Dreissig Tage», konstatierte er. «Dazu kommen die fünfzehn Tage, die ich davor schon warten musste, weil Akasha in den Ferien war. Das heisst, vor fünfundvierzig Tagen wäre mein Termin eigentlich fällig gewesen.» Er deutete vielsagend mit der Scherenspitze auf Anna. «Das ist mehr als genug.»

«Warum hast du den Termin dann nicht vor ihren Ferien gemacht?», fragte Anna herausfordernd.

«Weil das zu früh gewesen wäre», entgegnete er ein wenig ungeduldig. Ihr Augenrollen schien ihn nicht zu beeindrucken, denn er fuhr fort. «Du hast leicht reden, bei dir sieht man ja keinen Unterschied. Aber wenn du so etwas hast», er deutete demonstrativ auf seine chaotische Skaterfrisur, «spielt das eine Rolle. Hilfst du mir jetzt oder nicht?»

Anna seufzte extra laut, um ihm zu zeigen, dass er es eigentlich nicht verdient hatte. «Aber nur, damit du dir nicht noch wehtust», sagte sie dann. «Folgendes.» Sie trat einen Schritt auf ihn zu.

«Halt!», rief er und fuchtelte mit der Schere in der Hand in der Luft herum. «Du hast die zwei Meter überschritten», erklärte er sachlich.

«Du weisst aber schon, dass das ein Witz ist, wenn man im gleichen Haushalt wohnt?», fragte sie, während sie zurücktrat.

«Vorsicht schadet nicht», erwiderte er. «Du kannst es auch von dort aus erklären.»

Sie machte eine wegwerfende Geste, ehe sie begann. «Du musst die Haare nach vorne nehmen, so.» Sie teilte ihre Haare hinten ungefähr in der Mitte und warf sie sich nach vorne über die Schulter. «Dann klemmst du eine Strähne zwischen Zeigefinger und Mittelfinger, so. Nicht zu viel, sonst kommst du nicht durch.» Sie demonstrierte es an ihren eigenen Haaren.

Er imitierte die beiden Anweisungen und wandte den Blick zu seiner Hand neben seiner Wange. «Aber dann sehe ich ja gar nichts.»

«Dafür hast du ja den Spiegel», erklärte sie.

«Okay», lautete die etwas unsichere Antwort.

«Gut. Dann entscheidest du, wie viel du abschneiden möchtest und schneidest deinen Fingern entlang durch.» Sie demonstrierte es mit einer Schnappbewegung ihrer Finger. «Ganz einfach. Alles klar?»

Jonas nickte, doch er wirkte nicht überzeugt. «Klar», versicherte er.

«Gut», antwortete sie. «Keine Panik, du machst das schon. Das klappt wunderbar, wirst sehen.»

«Ich sage doch, ich hab alles im Griff.»

«Ich gehe jetzt einkaufen. Brauchst du irgendetwas Bestimmtes?»

«Nein, aber vergiss das Klebeband nicht.»

Sie nickte herablassend.

«Ich mein das Ernst, Anna», fuhr er auf.

«Ja, ich auch», gab sie zurück.

«Dann mach eben, was du willst, aber komm mir einfach nicht zu nahe!»

Sie beschloss, es dabei zu belassen. «Okay, bis später dann», sagte sie. «Vermassle es nicht.» Sie zwinkerte ihm zu, drehte sich um und ging ihre Schuhe anziehen.

«Nimm die Handschuhe mit!», rief er ihr hinterher.

Anna rollte mit den Augen, obwohl er es nicht sehen konnte. Nun übertrieb er es aber wirklich! Sie war dieses ständige Drama und diese Panik so etwas von leid. Im Gegensatz zu Jonas hatte sie nämlich herzich wenig Lust, ihr ganzes Leben anzuhalten wegen diesem bescheuerten Virus. Solange man noch einkaufen, joggen und radfahren durfte, würde sie das tun, genau so, wie sie es auch normalerweise tat. Wenn sie dafür öffentliche Verkehrsmittel benutzen musste, würde sie das tun. Und sie würde ganz sicher keine Markierungen auf den Boden ihrer Wohnung kleben, bloss weil ihr Mitbewohner ein bisschen herumspinnte!

Als Anna zurückkam, stiess sie die Wohnungstür mit dem Fuss zu und rief laut: «Bin wieder da!»

Die Antwort blieb aus.

Anna stellte die Einkaufstasche ab, zog die Schuhe aus und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Als sie fertig war und auch die Waren versorgt hatte, rief sie noch einmal: «Jonas?»

«Ich lebe, alles in Ordnung», klang es gedämpft zurück. Sie spähte in den Flur und erkannte, dass seine Zimmertür geschlossen war. An sich nichts Merkwürdiges, jedoch hatte etwas in seiner Stimme gelegen, das Anna störte.

«Wirklich?», rief sie.

«Ja, ja, geh radfahren oder sowas.»

Voll ins Schwarze! Gestern hatte er noch gesagt, sie solle auf keinen Fall «unnötig» rausgehen, auch nicht allein mit dem Fahrrad.

Sie schob sich zu seiner Zimmertür und klopfte. «Hast du’s vermasselt?»

«Was kümmert dich das?»

«Ich höre dir an, dass etwas nicht stimmt.»

«Ist nicht dein Problem!»

«Sei kein Baby und mach die Tür auf.»

«Nein.»

Anna drückte die Klinke herunter und wollte die Tür aufschieben, doch sie stiess auf Widerstand. Spasseshalber lehnte sie sich rücklings dagegen. «Vielleicht kann ich dir helfen.»

Eine ganze Weile lang passierte nichts. Anna wollte sich schon abstossen und ins Wohnzimmer gehen, als sie durch einen heftigen Ruck zurücktaumelte, fast fiel, sich jedoch gerade noch fassen konnte. Nun stand sie in Jonas’ Zimmer und er ungefähr zweieinhalb Meter von ihr entfernt, das Gesicht zu einem Traueremoji verzogen. Nachdem Anna den Anblick kurz gescannt und verarbeitet hatte, konnte sie sich nicht mehr beherrschen und lachte laut drauflos.

«Das ist nicht witzig!», protestierte Jonas.

«Entschuldigung», gluckste sie, während sie immer noch lachte. Sie wollte zu ihm aufschauen, um ihm zu erklären, dass alles nicht so schlimm war, aber sie musste so sehr lachen, dass sie kaum sprechen konnte. Sie beugte sich nach vorn, um sich unter Kontrolle zu bekommen.

«Du bist echt fies, weisst du?», wetterte Jonas weiter.

Anna atmete ein paar Mal tief durch und vermied es, Jonas direkt anzusehen. «Sieh es positiv», sagte sie. «Du könntest jetzt in einer Parodie mitmachen.»

«Ha-ha-ha», blaffte er. «Wenn du keine weiteren hilfreichen Tipps hast, lass mich jetzt bitte allein.»

Als sie sich sicher war, nicht mehr lachen zu müssen, richtete sie sich auf und sah ihn an. «Es gibt noch eine andere Möglichkeit, weisst du?»

«Oh, nein!», sagte er prompt.

«Nun, dann musst du jetzt eine Weile damit leben», entgegnete sie. «Besser wär’s aber…»

«Nein!», entgegnete er beinahe hysterisch.

«Wie du meinst. Dann jammere aber auch nicht.»

«Geh einfach!»

Anna zuckte die Schultern und verliess das Zimmer.