»Verzeihung?«, erklang eine etwas raue Stimme von oben herab. Abwesend legte Susan einen Finger auf die Seite im Buch und klappte den Deckel zu, um aufzusehen.

An der Tür zu ihrem Abteil stand eine ältere Dame. Sie mochte zwischen vierzig und fünfzig sein, graue Strähnen zogen sich bereits durch ihr dunkles Haar und um ihre Augen war eine ganze anzahl Fältchen zu sehen. Dennoch war ihr Blick freundlich, mit dem schmalen Lächeln, welches ihre Lippen umspielte

Kurz blinzelte Susan, sagte aber nichts, sondern sah die Frau nur fragend an.

»Ist der Platz noch frei?«

Die Frau deutete auf den Platz Susan gegenüber, doch Susan schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte nicht«, antwortete sie und wusste noch nicht mal warum genau. Natürlich war der Sitz frei, doch die Lüge war ohne ein Zögern über ihre Lippen gekommen. Vielleicht war es einfach, weil sie gerade ihre Ruhe gehabt hatte. Vielleicht war es, weil sie gerade keine Lust hatte mit jemandem zu sprechen. Vielleicht war es auch einfach, dass sie Gesellschaft im Allgemeinen überdrüssig war.

Das Lächeln verschwand aus den Zügen der Frau und wich einem etwas verdutzten Blick. Natürlich, im Abteil war nur zu gut zu sehen, dass Susan hier alleine. Aber es gab bestimmt noch genug Plätze sonst, wo sich die Frau hingesellen konnte.

Sie hielt dem nun etwas vorwurfsvoll werdenden Blick der älteren Dame stand, mit dem taktlosen Blick, für welchen sie bekannt war. Diese schien sich eines besseren zu besinnen und Susan wähnte sich bereits im Sieg.

»So ein Pech aber auch, aber es macht ihnen bestimmt nichts aus, wenn ich mir hier kurz eine Pause gönne. Nur bis ihre geschätzten Freunde zurückkehren.«

Der Hieb sass und Susan kam nicht umhin, die Frau kurz anzufunkeln. Die Freundlichkeit, schien plötzlich der Schadenfreude gewichen zu sein. Wahrscheinlich wusste sie, wen sie hier vor sich hatte.

»Natürlich…«, knurrte Susan und schlug demonstrativ ihr Buch wieder auf.

Die Frau setzte sich, raschelte mit ihren Kleider, nahm ebenfalls ein Buch hervor und blätterte lautstark um. Laut genug, dass Susan genervt aufblickte, nur um zu bemerken, dass die Frau sie weiter beobachtete. Die Erkenntnis machte sie nur noch wütender und sie stierte zurück in ihr Buch ohne auch nur eine Zeile zu lesen. Den Blick auf die Seiten geheftet, nervte sie sich über ihre eigene Art, während sie sich erneut fragte, was sie dazu bewegt hatte so unhöflich zu sein. Nur die Frau ließ ihren Gedanken keine Zeit sich zu beruhigen.

»Wissen sie, manchmal fühle ich mich so müde in diesem Krieg, dass ich das Gefühl habe, keinen Schritt mehr vor den anderen setzen zu können.«

»So schlecht scheint es ihnen nicht zu gehen«, brummte Susan ohne nach zu denken. Schließlich konnte sich nicht jeder die erste Klasse leisten.

Kurz setzte schweigen ein und bereits hoffte Susan, endlich ihre Ruhe zu haben.

»Nein«, gestand da die Frau ein, »So schlimm wie vielen anderen geht es mir nicht. Es ist die Ohnmacht, die mich müde macht.«

Nun hielt es Susan nicht mehr aus.

»Die Ohnmacht? Was für eine Ohnmacht? Wenn sie etwas tun wollen, gehen uns helfen sie. Spenden sie Geld, nehmen sie Leute bei sich auf, eröffnen sie ein Krankenhaus, aber labern sie mir hier nicht die Ohren voll.« Mit gefurchter Stirn sah sie die ältere Frau an, welche ihr nun einen eigentümlichen Blick schenkte. Irgendwoher kannte sie dieses Gesicht.

»Das tue ich bereits, mein Kind… Aber was bringt all mein Tun, wenn sie weiter den Krieg beschreien?«

Der Blick der Dame war hart geworden.

»Ich denke, ich finde hier keine Erholung. Bitte, genießen sie die Stille weiter, ich störe sie nicht weiter«, sagte sie mit einer kalten Gütigkeit, als sie aufstand und das Abteil wieder verließ.

Verwundert blickte Susan der Frau nach und starte noch auf die Tür, als diese längst verschwunden war. Ihr Blick lag auch noch dort, als ein junger Mann hinein kam und nach einem Platz fragte und Susan konnte nur nicken, nicht im Stande etwas zu sagen.

»Henry.«

»Was?«, fragte sie verwirrt, als sie der Stimme des Mannes gewahr wurde und seine Hand erblickte, die er ihr entgegenhielt.

»Mein Name ist Henry, es freut mich ihre Bekanntschaft zu machen. Sie sind?«

»Susan…«, murmelte sie, ohne ihre eigenen Hand zu heben.

Kurz entstand eine peinliche Stille, bevor der Herr die Hand wieder zurückzog. Er wirkte irgendwie abgewetzt. Seine Kleider waren nicht gebügelt, gar dreckig und bestimmt nicht neu. Er war gepflegt, aber er wirkte dennoch fehl am Platz.

»Reisen sie allein?«, versuchte er wohl, ein Gespräch zu erwirken. Susan aber nickte nur, während die Worte der Frau noch in ihren Ohren klangen. Eine kleine Stimme sagte, dass aus der ihr gewünschte Stille nicht geworden war, eine andere bedankte sich dafür und damit wandte sie ihre Aufmerksamkeit Henry zu.

Dies hatte wohl gerade den Versuch aufgegeben, mit ihr sprechen zu wollen.

»Allein lernt man allerlei Leute kennen.«

Sie lächelte leicht und brachte damit ihn zum Lachen. Es war ein angenehmes Lachen. Es erinnerte sie irgendwie an einen Bären. Es war warm und erinnerte sie an ihren Großvater, was seltsam genug war.

»Ach darum, sind sie so offenherzig?«, hakte Henry lachend nach und entlockte Susan damit ein verlegenes Schmunzeln.

»Ich war in Gedanken«, gestand sie als Erklärung ein.

»Schon gut, wenn sie lieber allein sein wollen, es hat noch genug andere Plätze.«

Sie hielt auch Henry nicht vom Gehen ab, doch im Gegensatz zur jungen Frau, trauerte sie seiner Begegnung doch etwas nach. Lange sollte sie auch jetzt nicht alleine bleiben, nur die nächste Begegnung war erwarteter Natur.

»Miss? Wir sind gleich da«, erklärte der Uniformierte. Kurz nickte Susan, verstaute ihr Buch, und legte den Mantel an. Erst kurz bevor sie das Abteil verliess, wandte sie sich an den Soldaten.

»Wurdet ihr nicht angewiesen, niemand hervor zu lassen?«, fragte sie gedankenversunken.

»Doch Miss. Niemand wurde durchgelassen.«

Nachdenklich verließ Susan den Zug … wer konnte so viel Interesse daran gehabt zu haben, solch bedeutungslose Worte mit ihr zu Wechseln, um dafür gar Magie aufzuwenden?