»Hau ab!«, knurrte Mira unwillig, als ihr jüngerer Bruder den Kopf in ihr Zimmer streckte. Sie untermalte ihren Unmut, indem sie ein schwarzes Samtkissen, das den Aufdruck »Schlafen kannst du, wenn du tot bist« trug, nach ihm schmiss. Natürlich verfehlte sie um einige Meter. Was eine beachtliche Leistung war, wenn man bedachte, dass Miras Bett, auf dem sie saß, nur circa zwei Meter von der Tür entfernt stand. Eigentlich war es ihr Lieblingskissen und in dem Moment als ihre Finger sich von dem weichen Stoff lösten und das schwarze Säckchen auf seine unerfolgreiche Reise schickten, tat es ihr schon wieder Leid. Aber das war egal jetzt! Mira war wütend, und enttäuscht und traurig, und wütend, vor allem aber war sie verheult, hatte riesige Panda-Augen und das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ihr kleiner Bruder Robin. Der störte sich allerdings nicht an der Gefühlslage seiner Schwester und marschierte ungefragt ins Zimmer.

»Ich hab gesagt, du sollst verschwinden«, zischte Mira erneut und wischte an ihren Augen herum. Ein Blick auf ihre Finger bestätigte die Vermutung, dass sie das Mascara-Chaos damit nur verschlimmert hatte.

»Ich weiß aber nicht wo ich hingehen soll«, murmelte Robin und kletterte auf ihr Bett.

Er war erst neun Jahre alt. Mira war sechzehn. Vor zwei Wochen, am Ende der Sommerferien, waren die beiden mit ihren Eltern in die USA ausgewandert. Long Island auch noch. Weit genug weg von New York City, um sofort als Außenseiter aufzufallen und nah genug dran, um ständig in dem Wissen zu leben, dass man zwar in New York ist, aber nicht in Manhattan. Mira hatte alles in Deutschland zurücklassen müssen: ihre Freunde, ihre Schule, ihren Fußballverein und nicht zuletzt ihren Freund. Hier spielte niemand Fußball. Mädchen schon gar nicht. Mädchen gingen tanzen oder zum Tennis oder spielten Lacrosse. Eine lächerliche Sportart in Miras Augen, bei der es so aussah als versuche man ein Ei mit einem Käscher zu fangen. Sie vermisste ihr Leben in Deutschland. Mit ihren Freundinnen hatte sie Rotz und Wasser geheult, als sie es erfahren hatte. Nach und nach jedoch hatten Miras Freunde sich anscheinend damit abgefunden und versucht, ihr das Positive am Auswandern aufzuzeigen. Sie könne Cronuts probieren, hatten sie gesagt, und zu Silvester an den Times Square gehen und natürlich würden alle Mira besuchen kommen. In regelrechte Begeisterung waren die Mädels dabei verfallen. Nur Mira nicht. Mira hasste ihr Leben hier. Mira vermisste Deutschland. Heute war der erste Schultag gewesen. Von ihrem Schulenglisch mal abgesehen, das ihr hier fast so viel nützte wie der Fakt, dass sie mit den Ohren wackeln konnte (etwas, das ihr Opa ihr beigebracht hatte), traf es Mira besonders hart, alleine zu sein. Ihre Klassenkameraden hatten sie freundlich begrüßt, aber das war auch schon alles. Mittags hatte sie alleine in der Kantine gesessen … ein Outsider.

Sie riss sich zusammen. Außer ihrem Bruder blieb hier anscheinend nicht viel.

»Hattest du einen schönen Schultag?«, fragte sie, um Versöhnung bemüht.

Robin schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, seufzte Mira.

»Wenn wir doch nur Superhelden wären«, murmelte der Kleine. Mira sah ihn verärgert an. Deswegen redete sie mit ihm nicht über ihre Probleme. Superhelden, pff!

»Scheiß doch auf Superhelden«, sagte sie, »die gibt es erstens nicht und zweitens könnten die uns hier wohl kaum helfen.«

Robin schüttelte vehement den Kopf.

»Ich bin mir sicher, Batman wüsste, was zu tun ist.«

Batman. Das war sein Lieblings-Held. Ein Flattervogel im Fetisch-Fummel. Wunderbar. Obwohl … so mit Christian Bale in der Hauptrolle … Egal!

»Er könnte einfach unsere Freunde hierhin bringen«, grübelte Robin weiter. »Oder uns zurück nach Deutschland holen.«

»Wird aber nicht passieren. Wir sitzen hier fest. Ich mindestens noch zwei Jahre bis ich 18 bin.«

»Und dann willst du weg?« Robin sah Mira aus kugelrunden Augen an. Sie zuckte mit den Schultern.

»Möglich.«

In den letzten Wochen hatte sie versucht, einen Nebenjob zu finden, um Geld für den Flug zu sparen, aber mit ihrem rudimentären Englischkenntnissen war es hoffnungslos. Mira drehte sich mit einem Ruck auf die Seite.

»Lass mich alleine, Robin.«

Das Bettzeug raschelte, als ihr Bruder aus dem Bett krabbelte und leise ihr Zimmer verließ. Endlich konnte sie sich wieder ihrem Elend hingeben. Superhelden … was für ein Schwachsinn.

Als Mira am nächsten Tag den Klassenraum betrat, rempelte sie jemand unsanft von hinten an. Um ein Haar wäre sie gestolpert und hätte sich damit endgültig zum Obst der Woche gemacht. Wutentbrannt fuhr sie herum und blickte in das entschuldigende Gesicht eines, ihr unbekannten, Mädchens.

»Sorry, ich war total in Gedanken. Wir kennen uns noch nicht oder? Ich bin Prya. Gestern war ich nicht da.« Sie deutete auf ihren Fuß, der in einem dicken Verband steckt. »Wir sind erst vor einer Woche aus Montana hergezogen und ich hab mir natürlich prompt gestern den Fuß gebrochen. Toller Einstieg.«

Prya lachte verlegen und Mira merkte, wie ihr Zorn verrauchte. So viele Wörter am Stück hatte bisher noch niemand hier mit ihr gewechselt.

»Nicht schlimm«, sagte sie schnell, »Ich bin Mira. Ich bin auch neu hier.«

»Du hast aber einen lustigen Akzent. Wo kommst du her? Russland?«

»Ähhh, fast. Deutschland.«

Dann betrat der Lehrer den Raum und die Mädchen beeilten sich, zu ihren Plätzen zu kommen.

»Vielleicht können wir ja zusammen mittag essen. Keine Lust, alleine zu sitzen«, raunte Prya ihr im weghumpeln zu.

Ein Lächeln breitete sich auf Miras Zügen aus. Eifrig nickte sie.

Während der Schulstunde war Mira mit ihren Gedanken ganz woanders. Nämlich bei ihrem kleinen Bruder.

Vielleicht gab es doch Superhelden, dachte sie. Sie sehen nur anders aus, als man es sich immer vorstellt.