Zögernd schritt Bekka durch den düsteren Gang. Der Lärm der Schankstube verringerte sich, je tiefer sie in das Innere des Gebäudes vordrang. Schliesslich erreichte sie die die schmucklose Tür. Die Hand der jungen Frau fuhr an ihren Gurt und vergewisserte sich, dass der Beutel und sein Inhalt noch dort waren.

Ein letztes Stossgebet, dann klopfte sie an die solide Eichentür. Schritte waren durch das dicke Holz nicht zu hören. So zuckte Bekka leicht zusammen, als die Türe schwungvoll aufgerissen wurde. Im Gegenlicht erkannte Bekka zunächst nicht mehr als die Silhouette einer Frau. Als diese zur Seite trat, fiel der warme Schein einer Gaslampen auf die Gastgeberin. Sie war hochgewachsen, mit aufreizenden Kurven, die sie gut in Szene zu rücken wusste und verstrahlte eine autoritäre Aura. Üppiges rotes Haar fiel ihr wild über die Schultern bis kurz über die schmale Taille. Ihre Augen waren von einem strahlenden Blau, das an die Weiten der Ozeane erinnerte.

Die Frau deutete auf Bekka und hob fragend die Augenbrauen.

«Mein Name ist Bekka Sanderson. Ich kenne deinen Fluch und kann dir Heilung anbieten», erklärte Bekka schlicht.

Die Augen der Frau weiteten sich zunächst leicht, als sie begriff, doch dann fasste sie sich wieder. Schneller als Bekka blinzeln konnte, zog die Rothaarige ein kostbar anmutendes Messer und drückte es Bekka an die Kehle. Die junge Frau spürte die kalte Schneide auf der Haut und ihr Herz machte einen nervösen Hüpfer – auch wenn sie so etwas erwartet hatte. Sie liess einen Moment verstreichen, bis sie ihrer Stimme wieder vertrauen konnte und wisperte dann: «Töte mich und du wirst deine Stimme nie wieder hören.»

Der Blick dieser tiefblauen Augen bohrte sich in sie wie zwei Eiszapfen. Schliesslich ließ die Rothaarige von Bekka ab. Mit einer fliegenden Bewegung verschwand der Dolch in einer Scheide an ihrem Gürtel. Als sie zu einem Sessel vor dem Kaminfeuer ging, fiel Bekka auf, dass die Rothaarige ging, als ob sie etwas in den Schuhen hätte, das sie bei jedem Schritt stach. Als Bekka jedoch die Füsse der anderen betrachtete, waren diese unbeschuht. Vielleicht plagte die Frau ja eine alte Verletzung?

Ungeduldig wedelte die Rothaarige Bekka näher. Fordernd streckte sie die Hand aus. Bekka leckte sich nervös über die plötzlich trockenen Lippen. «Ich habe eine Bedingung», platzte sie schliesslich heraus. «Ich will das Geld nicht. Erzählt mir stattdessen Eure Geschichte.»

Für einen Moment sah es so aus, als ob die Rothaarige sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun wütend oder belustigt sein sollte. Sie musterte Bekka von unten bis oben, ihre Stirn gekräuselt. Als sie nickte, fiel der jungen Frau einen Stein vom Herzen. Hastig kramte sie den Beutel hervor und schüttelte sich den Inhalt in die hohle Hand: eine unscheinbare scheibenförmige Muschel, wie sie zu tausenden am Strand gefunden werden konnten.

«Hier! Ihr müsst sie schlucken.»

Die Rothaarige warf Bekka einen letzten kritischen Blick zu, nahm dann die Muschel und steckte sie ohne zu zögern in den Mund. Mit dem gleichen eiernden Gang trat sie zu einem Tisch, auf dem eine Karaffe stand und schenkte sich Wein ein. Hastig stürzte sie den Inhalt hinunter und schluckte. Dabei hatte sie die Augen zugekniffen, so, als ob sie Schmerzen erwarten würde. Nichts passierte. Die Frau sah sie an und Unsicherheit schlich sich in ihren stolzen Blick.

«Ähm, warum sagt ihr mir nicht euren Namen?», fragte Bekka.

«M…» Die Augen der Rothaarigen wurden gross wie Teller, als ihrem Mund ein Ton  entwich. «M… Mein Name ist Ariel», hauchte sie so leise, als ob sie es kaum glauben konnte. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schlug sie die Hände über dem Mund zusammen, riss diese aber sogleich wieder davon weg. «Ich kann sprechen!», jauchzte sie. «Ich kann wieder sprechen!» Vor Freude hüpfte sie auf, doch als sie landete, verspürte sie offenbar wieder Schmerzen in den Füssen, denn ihr Gesicht verzog sich erneut.

Bekka gewährte ihr einen Moment, um sich zu sammeln und forderte dann ihren Preis ein. Zusammen setzten sie sich vor den Kamin.

«Ich war eine Tochter des Meeres,  jung und naiv», begann Ariel freimütig zu erzählen. «Dir mag die Welt unter Wasser zauberhaft erscheinen, doch ich sehnte mich nach all dem hier.» Sie machte eine ausschweifende Bewegung. «Bei meiner ersten Reise an die Oberfläche habe ich mich in einen menschlichen Prinzen verliebt, als ich ihn vor dem Ertrinkungstod rettete. Doch wir waren aus verschiedenen Welten, uns war es nicht vorbestimmt zusammen zu sein. Mein Herz hat sich nach ihm verzehrt, also habe ich die Meereshexe um einen Zauber gebeten, der mich zu einer Menschenfrau machte. Wie es Hexen so an sich haben, stellte sich Bedingungen. Ich würde meine Stimme verlieren und ich bekäme zwar Beine, doch es würde sich immer anfühlen, als ob ich auf Scherben gehen würde. Zudem musste der Prinz mich heiraten. Wenn er je eine andere ehelichen würde, wäre mein Schicksal besiegelt und ich würde am Morgen nach seiner Hochzeit zu Meereschaum werden und nicht mehr existieren. Wie gesagt, ich war jung und naiv. Ich hätte schwören können, dass ich sein Herz gewinnen konnte. Aber Erik war ein Einfaltspinsel. Er hörte auf seinen Vater und willigte ein, eine andere zu heiraten. Also schlich ich mich in der Hochzeitsnacht auf die Barke der beiden, bereit, die Konkurrentin zu strangulieren. Als ich sie so anblickte, von Zweifeln übermannt, kamen meine Schwestern an die Oberfläche. Sie drängten mich, am Leben zu bleiben und reichten mir ein magisches Messer. Dieses hatten sie im Tausch ihrer Haare von der Meereshexe erhalten. Mit diesem soll ich das Weibsbild töten, damit ich nicht sterben musste.»

Bekkas Blick fiel auf die kostbar aussehende Klinge am Gürtel der Rothaarigen.

«Du hast es getan!», keuchte sie.

«Ja», erklärte Ariel schlicht. «Zwar habe ich meine Seele damit verdammt und werde nie in den Himmel kommen, aber dafür lebe ich hier als Königin der Diebe und Scharlatane. Wenn mir schon das Fegefeuer droht, dann soll es sich wenigstens lohnen!» Sie grinste spitzbübisch, zog ihr Messer und machte einen Satz auf Bekka zu.

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Inspiriert durch: Den lille Havfrue